Die Figuren in Ralf Rothmanns neuem Erzählband sind stark problembehaftet. Neben Verflechtungen mit der Vergangenheit und inneren Unsicherheiten spielt vor allem die Angst eine zentrale Rolle in den elf Geschichten.
In der ersten Geschichte Wir im Schilf ist eine Geigerin die Hauptfigur. Kurz vor ihrem anstehenden Konzert trifft sie eine unerwartete, endgültige Entscheidung.
Die Buchtitel gebende zweite Geschichte, Hotel der Schlaflosen, ist nichts für zarte Gemüter. Erzählt wird von der Konversation des Gefangenen Isaak Babel, einem jüdischen Schriftsteller, der auf seine Erschießung wartet, mit seinem Peiniger und Vollstrecker Wassili Blochin. Der Text ist ein albtraumhaftes, ergreifendes Szenario mit allem erdenklich geschilderten menschlichen Leid der einen und eisigkalter Übermacht der anderen Figur: „Die linke Hand, an der drei Fingernägel fehlten…. Spitz die Nase, bleich das stoppelige Gesicht mit den gelbgrünen Flecken über dem Jochbein und dem geronnenen Blut im Ohr…“ (eBook S. 28).
In der Erzählung Das Sternbild der Idioten lesen wir von der Tragödie eines Filmkomparsen, an der die anderen Komparsen ungewollt beteiligt sind. Dies ist abermals ein außergewöhnlich mitleiderregendes Schicksal eines Menschen inmitten einer aberwitzigen Handlung.
Die Nacht in der Wüste beschreibt den Roadtrip eines älteren Dozenten, der mit einer jungen Anhalterin durch die Wüste fährt und am Ende zu einer Erkenntnis kommt.
In der Geschichte Admiral Frost geht es um die Deckung einer Araberstute mit skurriler Abfolge.
In der letzten Geschichte Ein leises Ziehen in der Herzgegend täuscht sich der Protagonist in seinem Erinnerungsvermögen, das ihn bislang jedes Detail, vor allem aus seiner Kindheit abrufen ließ: „Die linke weiße Vorderpfote des Nachbarhundes Racko, der gerade angerührte Waldbeeren-Quark, aus dem sich ein blauer Käfer kämpfte, oder das Katzengold auf der Kohle im dunklen Schuppen…“ (eBook S. 153). Doch das vermeintliche Dorf seiner Großeltern, das er aufsuchen wollte, war ein ganz anderes…
Ralf Rothmanns Geschichten wiegen schwer. Seine Texte leben von einer prägnant gewählten Erzählhaltung und detaillierten, sprachgewaltigen Bildern, die tiefschürfend berühren und lange nachwirken.
Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen.
Suhrkamp, Oktober 2020.
200 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.
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