Topaktuell, witzig, empathisch: Dieses hochinteressante Buch über Schönheitstrends von der Antike bis zur heutigen Filler- und Filtergesellschaft legt die unstillbaren Sehnsüchte der Gesellschaft nach dem perfekten Aussehen dar. Die ehemalige Musikredakteurin von Zeit Online präsentiert Fakten aus Anthropologie, Biologie, Psychologie und Soziologie, die zum Entstehen von Schönheitstrends geführt haben. Welche Rolle spielen Macht, Status und Kapitalismus? Was können wir dem Fluch der vom Jugendwahn besessenen Gesellschaft entgegenhalten? Warum hat die Evolution überhaupt Schönheitsmerkmale erfunden? Inwieweit ist die weibliche Schönheit ein Palindrom? Warum wurde der rote Lippenstift im Zweiten Weltkrieg zum politischen Statement? Vom Sinn und Unsinn von Beauty Idealen, von der tödlichen Bleichcreme zum überzeichneten Instagram-Gesicht, das wir nicht mehr „lesen können“, lustwandeln wir durch den bezaubernden Irrgarten der Beautyhistorie.
Schönheit aus Sicht der Evolution und Gesellschaft
Stück für Stück analysiert Rabea Weihser das menschliche Gesicht. Haut, Profil, Augen, Brauen, Lippen sowie Themen wie Masken, Makel, Alter und Ideale. Warum gilt die Mona Lisa als so rätselhaft, warum können wir ihr Gesicht so schwer erinnern? Ganz einfach: Sie hat keine Augenbrauen. Studien zeigen, dass Menschen ihr Gegenüber sogar eher an den Augenbrauen, als an den Augen erkennen. Die Ägypter rasierten sich die Augenbrauen, wenn ihre geliebte Hauskatze starb. Sie waren auch die ersten, welche die Augen mittels Khol-Kajal in den Mittelpunkt des Gesichts rückten, wenngleich aus hygienischen Gründen, um sie vor Wüstensand, Bakterien und UV-Strahlung abzuschirmen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Tragen von Lippenstiften wie Elisabeth Ardens „Victory Red“ zur patriotischen Pflicht alliierter Frauen. Sie grenzten sich damals bewusst vom ungeschminkten Ideal des deutschen Nazipropaganda-Bildes ab. So ist Schönheit immer auch politisch, erklärt den Zeitgeist, den Status und Trends, die manchmal sogar dem Überlebenstrieb widersprechen. So wie der abgemagerte Heroin-Chic in den 1990er Jahre Weltverdruss ausdrückte oder die Unfruchtbarkeit verursachenden Bleichcremes der elisabethanischen Ära als Zeichen von Eleganz gelesen wurden.
Lippen als weibliches Palindrom
Binnen Millisekunden lesen wir unser Gegenüber, nehmen Informationen unbewusst wahr. Das macht aus Sicht der Biologie und Evolution Sinn. So gehen Experten davon aus, dass der weibliche Mund ein Palindrom zu den geschwollenen Geschlechtsteilen während des Geschlechtsaktes ist – gemeinsam erfunden mit dem aufrechten Gang. Interessanterweise können Schönheitsideale abhängig von Kultur und Epoche voneinander abweichen, „Hässlichkeit“ scheint jedoch universeller Natur. Während mittlerweile Models mit Falten oder Vitiligo (Weißfleckenkrankheit) über die Laufstege flanieren, sucht man Models mit Akne vergebens. Grund: Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte waren wir von Lepra, Pocken, Beulenpest und Co bedroht, die sich über entsprechende Male im Gesicht bemerkbar machten und als hochansteckend galten. Alles, was nicht gesund wirkt, wird noch heute instinktiv abgelehnt. Weshalb blaue Lippen – die auf Erfrierungstode, Wasserleichen und Herzinsuffizienz hinweisen – als Protestbewegung der Punk-Szene vorbehalten blieben und sich nie als allgemeines Schönheitsideal etablieren konnten.
Schwierig: Feminismus und Schönheit
Neben diesen interessanten historisch-anthropologischen Fakten unterzieht Rabea Weihser die heutigen Schönheitsideale in der gefilterten, gephotoshoppten Schönheitsfalle einem kritischen Blick. Auch aus dem schwierigen Blickpunkt des Feminismus. Ist Schönheitsroutine eine Unterwerfung unter den männlichen Blick oder ein Mittel zur eigenen Selbstentfaltung? Feministinnen fänden es schwierig, wenn Männer sie wegen ihres Aussehens beurteilen, haben selbst aber keine Skrupel, dies bei anderen Frauen zu tun. Hat das sogenannte Pretty Privilege auch Nachteile? Bei Weihsers Betrachtungen kommt der kluge Wortwitz nie zu kurz. Beispiel: „Altwerden heißt Leben. Wer auch immer den Marketing-Terminus ‚Anti-Aging‘ erfunden hat, sollte für Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden. (…) Anti-Aging im Hautpflegeregal ist so intelligent wie ‚Anti-Blut“ für Tampons, ‚Anti-Bart“ für Rasierer, ‚Anti-Kids“ für Kondome.“ (S. 275) Chapeau!
Es bedarf eines Umdenkens, um das bedenkliche Selbstbild, das viele Menschen entwickelt haben, wieder in gesunde Bahnen zu lenken. Laut einer Umfrage beschäftigen sich Frauen der Generation Y durchschnittlich ab 35 Jahren mit Anti-Aging-Produkten, Frauen der Generation Z bereits ab 23 Jahren. Anders ausgedrückt: „Die große Tragik am Schminken ist doch eigentlich, dass die Lust daran junge Frauen meist in dem Alter überkommt, in dem sie ungeschminkt am schönsten sind“. (S. 65)
Witzig und wissenschaftlich zugleich
Fazit: Ein Must-Read-Buch, das den Zeitgeist wunderbar einfängt. Wissenschaft und Witz halten sich bei Rabea Weihser gekonnt die Waage. Dazwischen jede Menge interessanter Fakten und amüsanter Kommentare wie ein fiktives Gespräch mit Helena, der schönsten Frau der Antike. Weihser zeigt auf, warum Menschen mit kleinen Makeln schöner wirken, als vermeintlich perfekte Gesichter. Danach werden Sie Schönheit mit anderen Augen sehen. Und sich künftig hoffentlich wohlwollender im Spiegel betrachten.
Rabea Weihser: Wie wir so schön wurden. Eine Biografie des Gesichts.
Diogenes, Februar 2025.
352 Seiten, gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.