Kurz und knackig auf den Punkt gebracht, aber mit viel Tiefgang. Abendblätter ist eine Mischung von Kurzgeschichten und Alltagsbeobachtungen, die bisweilen bis auf die Größe von Aphorismen verdichtet sind. In 134 Kapiteln verpackt Otto Jägersberg Buchtipps und Dichter, historische Anekdoten, Einblicke in seine Heimat im Schwarzwald und Kurioses aus dem Bereich des Zwischenmenschlichen. Keine Lust auf fette Schmöker? Dann ist diese Kürzest-Literatur, die Ihr Gehirnschmalz auf Trab hält und Ihnen dabei so manches Grinsen entlocken wird, genau das Richtige!
Die Zahnpasta als Metapher fürs Leben
Morgens beim Zähneputzen geht es los. Protagonistin Brigitte vergleicht ihr Leben mit der wurmartigen Geschmeidigkeit, mit welcher die Zahnpasta aus der Tube gedrückt wird. „So ist mein Leben, dachte sie. Da dreht einer, und ich gehe auf, ich gleite in den Tag. Wer aber dreht an ihr? Ihr Mann, die Kinder, Gott?“. Mit solchen Gedanken wird selbst ein bloßes Bad zum Blick in den Abgrund des Alltags. Mit nur sieben Sätzen schafft Jägersberg Szenen, die sich beim Lesen festsetzen. Sie muten harmlos an, bis sich der bittersüße Beigeschmack an die Oberfläche bahnt.
Kunstraub in Afrika, unbeliebte Statuen in Baden-Baden oder ein Arbeitszeugnis, das Goethe seiner untalentierten Köchin ausgestellt hat, bei der selbst ein hartgekochtes Ei zur pampigen Soße gerät–Jägersberg lustwandelt durch Regionen und Zeiten. Kierkegaard setzte die Langeweile an den Anfang der Schöpfungsgeschichte. Dichter Herwegh gerät in die politischen Wirrungen des 19. Jahrhunderts. Am Ende lockt der Friedwald samt Baumbestattung, welche mit der Friedhofsordnung im Einklang stehen muss.
Kurzliteratur mit geistreichem Humor
Unchristliche Kirchen blockieren den ökologischen Landbau, Mode wird zur Seuche (wenngleich zur harmlosesten von allen), dazu historische Bücher, bei denen Passagen von den „sittlich Entrüsteten“ eingeschwärzt wurden. Als Krönung allerlei unerfreuliche Anblicke, von fettleibigen Ungerer-Figuren beim Einkaufen bis hin zu geschmacklosen Tattoos, für Menschen, die nicht mit der „Spielfläche Haut“, der Trennung zwischen Innen und Außen, zurechtkommen. Wie Jägersberg dabei beleibte Menschen ironisch beschreibt, ohne in plumpes Bodyshaming abzudriften, ist großartig! Sein Humor ist mal bissig, mal ironisch, mal ganz subtil zwischen den Silben verpackt.
Der 1942 geborene Autor, Buchhändler und Antiquar, dessen Stationen ihn von Münster über Berlin nach Stierstadt und Baden-Baden geführt haben, glänzt mit großem Allgemeinwissen und einem Blick für besondere Perspektiven.
Manchmal erinnern Jägersbergs Abendblätter an die hochwertigen Diogenes-Abreißkalender – nur in längerer, literarischer Version. So ist das verdichtete Werk fast zu schade, um es in einem Atemzug durchzulesen. Machen Sie es wie Zucker und Chili: Die Dosis steigert den Genuss! Jeden Tag ein Kapitel zum Aufstehen, als gedankliche Zwischenpause und als literarischen Abendsnack vor dem Zubettgehen und Sie werden daran noch mehr Freude haben.
Otto Jägersberg: Abendblätter.
Diogenes, Juni 2024.
176 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.