Amy Neff: Warte auf mich am Meer

Evelyn Myers ist Mitte 70 als bei ihr Parkinson diagnostiziert wird. Eine fiese Krankheit. Die Ärzte erklären ihr außerdem, dass die Krankheit bei ihr besonders schnell verlaufe. Sie hat nicht mehr lange zu leben. Für Joseph, ihren Mann, mit dem sie seit gut sechzig Jahren zusammen ist – sie sind schon als Nachbarskinder groß geworden, haben sich später ineinander verliebt – ist die Vorstellung, ohne Evelyn weiterleben zu müssen, unerträglich. Die beiden beschließen, ihrem gemeinsamen Leben ein gemeinsames Ende zu setzen. Nächstes Jahr im Juni. Noch recht lange halten sie die Krankheit wie auch ihren Plan vor ihren drei Kindern und ihren Enkeln geheim.

Sie wollen sie nicht in Verzweiflung stürzen. Sie wissen genau, dass Jane, Thomas und Violet versuchen würden, sie von ihrem Beschluss abzubringen. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden nicht damit klarkommen, auf ein bestimmtes Datum hinzuleben und zu wissen, dass sie an diesem Tag X beide Eltern verlieren würden. Aber auf Dauer lässt sich Evelyns sich merklich verschlechternder Zustand nicht verheimlichen. „Wir müssen einen Weg finden, uns zu verabschieden“, sagt Evelyn. Es kommt, wie erwartet. Tränen, Verzweiflung, Versuche, die Eltern umzustimmen, Vorwürfe, rationale Argumente. Evelyn und Joseph lassen sich nicht umstimmen.

Von diesem Abend an läuft das Leben der Familie, insbesondere von Evelyn und Joseph, noch einmal vor uns ab. Erzählt wird jeweils aus der Perspektive von Evelyn oder Joseph, beginnend mit ihrer Jugend, zusammen mit Evelyns Bruder Tommy, der später im Krieg gefallen ist, dann Evelyns Zeit in Boston, Josephs Zeit im Krieg bis hin zu ihrer gemeinsamen Rückkehr ins Oyster Shell, ihre Ehe mit all ihren Höhen und Tiefen lassen sie Revue passieren, die Kindheit ihrer Kinder bis eben zu Evelyns Krankheit und der Zeit, die ihnen noch bleibt. Ihnen und ihren Kindern und Enkeln. Auch die Kinder kommen zu Wort. Nach dem Abend, an dem sie von der Krankheit und den Plänen der Eltern erfahren haben. Auch sie lassen noch einmal ihre Kindheit, ihr Erwachsenwerden vorbeiziehen. Gemeinsam versuchen sie, die Zeit, die bleibt – Evelyn und Joseph planen noch bis zum Juni des nächsten Jahres – möglichst unbeschwert zu gestalten und zu verbringen. Evelyn hat schon immer eine Liste mit Wünschen – „was ich noch gerne machen würde“ – gehabt, darauf steht u.a. „einmal mit dem Boston Symphony Orchestra“ spielen. Für ein Leben mit Joseph hat sie als junge Frau auf eine Karriere als Pianistin verzichtet.

Ein letzter Sommer am Strand, ein letzter Herbst im Garten, ein letzter Winter, ein letztes gemeinsames Weihnachten und Silvester, ein letztes Frühjahr. Ihr Entschluss steht. Auch wenn Evelyn es Joseph nicht verübeln würde, einen Rückzieher zu machen, der Entschluss scheint unumstößlich.

Amy Neff lässt uns teilhaben an den Gedanken, Ängsten, Wünschen, der Wut, dem Unverständnis und der großen Liebe zwischen Evelyn und Joseph, aber auch zu und zwischen ihren Kindern. Sehr emotional und berührend, manchmal zu Tränen rührend und dennoch nüchtern erzählt, sachlich im Stil, nicht auf die Tränendrüse drückend. Irgendwo zwischen „Ein ganzes halbes Jahr“ von Jojo Moyes und „Wie ein einziger Tag“ von Nicholas Sparks, da hat die Lektorin, die eine Vorbemerkung im Leseexemplar geschrieben hat, schon recht. Ein guter, dicker Schmöker, was „fürs Herz“.

Amy Neff: Warte auf mich am Meer
Aus dem Englischen von: Wibke Kuhn
Goldmann: Juli 2024
480 Seiten: Hardcover: 22,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

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