Die US-Amerikanerin Miranda Cowley Heller arbeitete bei dem New Yorker Kabelfernsehanbieter Home Box Office (HBO) und verantwortete dort mehrere erfolgreiche Serien. Mit Mitte fünfzig schrieb sie ihren ersten Roman „The Paper Palace“, der bei seiner Veröffentlichung 2021 zum New York Times Bestseller avancierte. Am 31. März 2022 erschien im Ullstein Verlag die deutsche Fassung unter dem Titel „Der Papierpalast“ in einer Übersetzung von Susanne Höbel.
Die Familie Bishop verbringt, wie jedes Jahr, den Sommer in Back Woods, Cape Code. Elle und Peter Bishop, ihre drei Kinder Jack, Maddy und Finn und Elles Mutter Wallace wohnen in den Hütten, die einst Elles Großvater Amory aus gepresster Pappe und Hohlziegeln gebaut hat, und die sie liebevoll „Papierpalast“ nennen. Es ist der 1. August, und am Abend zuvor hat Elle mit ihrem besten Freund aus Kindheitstagen Jonas „gefickt“, während ihre Kinder schlafen und ihr Ehemann Peter mit Jonas’ Frau Gina drinnen zusammen sitzt, redet und trinkt. Für Elle bedeutet es die Erfüllung einer lang gehegten Sehnsucht. Nun muss sie sich entscheiden, der brave Peter oder der wilde Jonas? Beide sehr gutaussehend und attraktiv.
So beginnt Miranda Cowley Heller ihren Roman um die 50jährige Eleanor. Das Konzept eine Geschichte, die nur an einem einzigen Tag spielt, erweist sich allerdings als Mogelpackung. Nehmen doch die Rückblenden zur Familiengeschichte hunderte von Buchseiten ein. Springt die Autorin zu Anfang noch zwischen dem Hier und Jetzt und dem Dort und Damals hin und her, was eine gewisse Spannung und Dynamik erzeugt, besteht der gesamte mittlere Teil des Romans (S. 169 – S. 400) abgesehen von nur noch einer kurzen Unterbrechung (S. 265) aus der Vergangenheit. Als Lesende erfahre ich von der Großelterngeneration über die Eltern bis hin zu Elle, Peter und Jonas von Familiengeheimnissen, Scheidungen, Lügen. Elles Eltern trennen sich früh. Elle und ihre ältere Schwester Anna wachsen bei der Mutter auf. Ihr Vater Arthur ist schwach und weich. Elle und Jonas lernen sich in Back Woods kennen und werden unzertrennlich. Später wird Elle von ihrem Stiefbruder Conrad missbraucht. Bei einem Segelausflug mit Jonas und Elle fällt Conrad über Bord und ertrinkt. Elle geht nach England, dort trifft sie Peter. Sie heiraten, gehen zurück nach Amerika und bekommen drei Kinder. Anna stirbt an Krebs.
Nach 440 Seiten gelingt Miranda Cowley Heller ein doch noch überraschendes Ende der Geschichte. Ansonsten hat sie an alles gedacht. Sehr detailliert beschreibt sie Figuren, Landschaften, Räume oder Innenleben:
„Auf den Sandstraßen durch die Wälder tanzten Schattenflecken, wo die Sonne durch Zwergkiefern und Schierling schien. Wenn wir zum Strand gingen, erhob sich unter unseren Schritten feiner rötlicher Kalkstaub und verbreitete Sommergeruch: trocken, gebacken, ewig, süß. Auf dem langen Streifen in der Mitte der Straße wuchsen Strandhafer und Giftsumach. Wir wussten, was wir meiden mussten […]“ (S. 27/28).
Beinahe sieht man die Folgen der geplanten Serie dieses Romans schon vor sich. Das ist sicher im Hinblick auf den Erfolg einer Verfilmung gelungen, literarisch bleibt der Roman eher Durchschnitt.
Es ist kein vergnügliches Buch für den Sommerurlaub, dazu eignen sich Missbrauch und Inzest nicht. Und um es zu einer mitreißenden, in Erinnerung bleibenden Lektüre über die Geschichte einer Familie zu machen, fehlt es an leidenschaftlichem Ausdruck. Zu akribisch, zu seelenlos die Beschreibungen. Zu reißbrettartig die Figuren. Zu lang die Rückblenden für eine Geschichte, die an einem einzigen Tag spielt. Waren meine Erwartungen an diesen Roman hoch, so lautet mein Fazit: kann man lesen, muss man aber nicht.
Miranda Cowley Heller: Der Papierpalast.
Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Höbel.
Ullstein, März 2022.
448 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.