Eine unvergessliche Nacht erleben die Brüder Itamar und Boas und dies in doppelter Hinsicht: An einem ihrer jährlichen Abende in einem Hotelzimmer, wenn sie viel Alkohol trinken, etwas essen und miteinander reden, weinen und lachen werden auf einmal lang gehütete Geheimnisse geteilt. Eines davon bezieht sich auf ein erotisches Abenteuer, das Itamar erlebte.
Der Autor Meir Shalev (1948 – 2023) wurde anfangs als Fernseh- und Radiomoderator bekannt. Er schrieb Kolumnen für die Nachrichtenseite „Ynet“ und machte später mit seinen Romanen Karriere. 2006 erhielt er die höchste literarische Auszeichnung in Israel, den Brenner Prize. Sein Grad an Beliebtheit und Renommee wird auch darin deutlich, dass Staatspräsident Isaac Herzog in den sozialen Medien schrieb: „Wie schade, dass wir nie wieder gespannt auf ein neues Buch von Meir Shalev sein werden, das erscheinen und unser Leben verändern wird.“
Der Autor war politisch aktiv, als er sich für die Zweistaatenlösung einsetzte. In seinen Romanen fokussiert er die Besonderheiten der Israelis.
In seinem aktuellen Roman thematisiert der Autor die Rache der Frauen und das Lüften von Geheimnissen, die zum gegenseitigen Verständnis führen können. Im Zentrum steht Itamar, der unter seiner Schönheit leidet und sich gleichzeitig mit dem Umstand arrangiert, aufgrund seines Äußeren bevorzugt zu werden. Er braucht nie um irgendetwas kämpfen, ihm fliegen die Herzen einfach zu. Trotzdem kam seine Familie mehr schlecht als recht miteinander aus. Dies lag unter anderem an der unglücklichen Ehe der Eltern, die ihren Söhnen ein vorbelastetes Frauen- und Männerbild vorlebten, bei dem das Gegeneinander eher als das Miteinander funktioniert. „Erzähl’s nicht deinem Bruder“ scheint zu einem Standardsatz in der Familie geworden zu sein. Wenn Itamar oder Boas etwas erfuhren, wurden sie gegen ihren Willen zu einem Geheimnisträger. Die Lebenslügen und Heimlichkeiten finden auf diese Weise einen festen Platz in ihren Köpfen.
Meir Shalev erzählt und verknüpft das Leben des Erzählers Itamar mit den Ereignissen in der Familie auf verschiedenen Zeitebenen, so dass ein Spannungsbogen durch dessen Biographie gezogen wird. Die Gegenwartsliteratur des Autoren macht Spaß und beschreibt auf unterhaltsame Weise vieles, was sich kaum anders erklären lässt.
„… Es geht um einen One-Night-Stand, Boas, um eine einzige Nacht, nicht ums ganze Leben. Nicht um Ehe und nicht um das blöde Wort, das ihr euch hier angewöhnt habt, Partnerschaft. Warum soll ich mich dermaßen anstrengen, diese Scharon zu verstehen?“ (S. 220)
Meir Shalev: Erzähl‘s nicht deinem Bruder
Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama
Diogenes, Juli 2023
304 Seiten, Hardcover Leinen, 25,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.