Knut Hamsun: Hunger

„Hunger“ von Knut Hamsun gehört zu den Büchern, von denen man meint, sie ganz sicher schon gelesen zu haben, weil sie oft genug als Bezugspunkt genannt werden. Die Prüfung des Sachverhaltes hat allerdings ergeben, dass dem in meinem Fall nicht so ist und so bot mir die Neuauflage des Buches im Manesse Verlag die Gelegenheit, diese Lücke zu schließen. Bei der Recherche bin ich auf einen mir bis dato unbekannten Umstand gestoßen: Hamsun vertrat die Positionen der deutschen Nationalsozialisten und er verehrte Hitler. Von dieser Haltung hat er auch nach 1945, als Europa in Schutt und Asche lag, nicht abgelassen, was mein Interesse an seinem Buch stärkte, denn ich wollte herausfinden, warum wir Hamsuns Werke trotzdem nach wie vor lesen.

„Hunger“ erschien 1890, es ist das erste Buch des norwegischen Autors und begründete seinen Ruhm. Der Roman handelt von einem mittellosen Journalisten, der sich mit Müh‘ und Not über Wasser hält, indem er ab und zu einen Artikel in einer Zeitschrift platzieren kann und zwischendurch sein Hab und Gut beim Pfandleiher veräußert. Zu Beginn wohnt er in einem dürftigen Zimmer, welches er sich bald nicht mehr leisten kann, später haust der namenlose Protagonist über einer verlassenen Werkstatt. Hunger ist sein ständiger Begleiter und treibt ihn immer wieder zu unsinnigen oder peinlichen Handlungen. Es ist ihm wichtig, den Schein zu wahren und nicht als bedürftig erkannt zu werden. Es hat etwas von Tragikomik, wenn er sich zum Beispiel nach einer Nacht in Polizeigewahrsam als gut situierter Journalist ausgibt und dadurch bei der Verteilung der Tagesration für Obdachlose nicht berücksichtigt wird.

Der Roman besteht aus vier Stücken, wie Hamsun die einzelnen Abschnitte benennt. Am Ende eines jeden Stückes gibt es einen Hoffnungsschimmer, weil der Held zu Geld kommt, indem er einen Artikel verkaufen kann oder ihm jemand etwas schenkt. Doch das Glück ist immer nur von kurzer Dauer.

Das Dilemma des Schriftstellers

Der Roman ist durchgehend aus der Sicht des Protagonisten bzw. in Figurenrede geschrieben. Dabei gibt es fließende Übergänge zwischen äußerer Handlung und Innensichten. Es entsteht der Eindruck, dass die Ereignisse in realer Zeit beschrieben werden. Lesend begleite ich den jungen Mann auf allen Wegen, nehme an dessen Beobachtungen und Überlegungen teil. Ich kreisele in Gedankenspiralen, teile Euphorie oder versinke in Selbstmitleid, bewege mich mit ihm auf einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale.

Mit dieser Schreibtechnik des Bewusstsseinsstromes beschritt Hamsun neue Wege und war Inspiration für viele nachfolgende Autoren. Seine Sprache ist modern und spielte der Roman nicht in Kristiana, wie Oslo damals hieß, und gäbe es dort nicht Pferdefuhrwerke statt Autos, könnte das Buch heute geschrieben worden sein.

Ein Spagat

Hamsuns Meisterschaft zeigt sich auch bei einem weiteren Aspekt. Ich habe bisher in keinem anderen Roman eine so genaue Beschreibung des Dilemmas eines Schriftstellers gelesen: Der Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und den Erwartungen des Publikums misslingt dem glücklosen Schreiber immer wieder. Grandios ist die Beschreibung des Balanceaktes auf dem schmalen Grat zwischen Stolz auf das eigene Können und eitler Selbstüberschätzung.

Knut Hamsun hat seinen Roman später mehrmals geändert und um aus seiner Sicht blasphemische bzw. erotische Inhalte bereinigt. Die vorliegende Übersetzung von Ulrich Sonnenberg bezieht sich auf die Originalausgabe von 1890.Wie schon bei anderen Klassiker-Ausgaben aus dem Manesse-Verlag gibt es im Anhang Begriffserklärungen zum besseren Verständnis und ein Nachwort zur Einordnung. Damit haben Verlag und Übersetzer ein wirklich gutes Werk getan, denn „Hunger“ ist ein Buch, das man gelesen haben sollte. Ich kann es guten Gewissens empfehlen.

Knut Hamsun – Hunger
Nach der Erstfassung von 1890 aus dem Norwegischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg
Manesse Verlag, Januar 2023
256 S., Fester Einband mit Schutzumschlag, 25,00 €

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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