Katrin Böhning-Gaese et al.: Rettet die Vielfalt: Manifest für eine biodiverse Gesellschaft

Das Thema Biodiversitätsverlust wird gegenüber dem Klimawandel häufig übersehen. Zu Unrecht. Intakte Ökosysteme stellen uns Nahrung, Energie, Lebensraum, Luft zum Atmen, sauberes Wasser, Schutz vor Umweltkatastrophen, Erholung, Ästhetik und Gesundheit bereit (Beispiel: rund 70 Prozent aller Krebsmedikamente gehen auf Naturwirkstoffe zurück!). Die Botschaft des Buches ist knackig: „Während der Klimawandel darüber bestimmt, WIE wir in Zukunft leben werden, entscheiden das globale Artensterben und die globale Vernichtung von Ökosystemen darüber, OB wir Menschen auf diesem Planeten überleben werden.“ (S. 161). Doch das Buch schürt keine Panik, sondern beschreibt viele Lösungsvorschläge. Was bereits möglich ist und in anderen Ländern erfolgreich umgesetzt wird. Das Autoren-Trio aus den Bereichen Wissenschaft, Juristik und Geschichte veranschaulicht das Thema äußerst umfassend, praxisnah, hinterlegt mit erstaunlichen Zahlen und Fakten.

Wirtschaftsfaktor Natur: Ökonomischer Wert der Artenvielfalt!
Schon gewusst: Die Hälfte aller Wirtschaftsleistungen weltweit geht auf Leistungen der Natur zurück!  Und sogar kostenlos. Genau darin liegt laut den Autoren das Problem. Was nichts kostet, ist nichts wert. Was nichts wert ist, wird nicht geschützt, hat im Diskurs zwischen wirtschaftlichen und sozialen Fragen stets das Nachsehen. Dabei hat eine 2024 veröffentlichte Studie erstmals den Wert der von der Natur bereitgestellten Leistungen berechnet. Sie sind für die Folgen des Klimawandels weltweit auf  38 Billiarden US-Dollar jährlich berechnet worden! Dieser Betrag ist sechsmal so viel, wie das, was es kosten würde, die Erderwärmung auf 2 Grad einzudämmen und bedeutet gleichzeitig ein Fünftel Einkommensverlust für die Weltwirtschaft. Die Kosten für die Biodiversitätsverluste sind ebenfalls so massiv, dass Experten dringend ein Einlenken fordern. Doch was passiert stattdessen? Deutschland hat allein im Jahr 2022 67 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen fließen lassen. Hingegen werden weltweit pro Jahr nur rund 0,1 Prozent der Wirtschaftsleistung für Umweltschutz ausgegeben. Ein Wahnsinn mit Ansage.

Was sollte also geschehen, um eine biodiverse Gesellschaftsform zu erreichen, in der sogar Wachstum gelingen kann – durch Alternativen statt Verzicht. All das beleuchtet das dreiköpfige Autorenteam auf höchst anschauliche Weise. Was sind die Big Five Gründe, die zum Biodiversitätsverlust führen? Was hat zum Wandel von der Industrie- zur Risikogesellschaft beigetragen? Welche Folgen hat der Verlust der Biodiversität für die Menschheit? Das Buch informiert über die verschiedenen Funktionen der Natur und warum menschliche Kultur in biodiversen Hotspots stets am meisten erblühen konnte. Zudem die ethische Frage: Hat die Natur nicht selbst auch ein Recht um ihrer selbst willen – zumal wir alle Teil der Natur sind?

Recht auf Zukunft: Biodiversität im Grundgesetz
Die Autoren dieses hochinteressanten Sachbuchs zeigen auf, welche Rahmenbedingungen vorherrschen müssen, damit die Biodiversität überhaupt geschützt werden kann. Im Gegensatz zu Vorreiterländern wie Ecuador hat die Natur in Deutschland laut Gesetz keine Rechte, in deren Namen Personen oder Umweltschutzverbände klagen können. Dabei sind bereits jetzt einige Neuerungen aufgrund von verschiedenen Paragraphen des Grundgesetzes herleitbar. Ein Meilenstein ist das „Recht auf Zukunft“. Dieses geht auf den Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 zurück, der das erste Klimaschutzgesetz von 2019 als verfassungswidrig ansah, weil die Hauptlasten zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen nach 2050 verschoben wurden– zu Lasten der jungen Generation. So musste die Bundesregierung ihre Ziele anpassen und erhöhen.

Amsterdam und Ecuador zeigen, wie es geht!
Zudem reiht das Autorenteam Erfolge auf, wie den Weltnaturgipfel 2022 in Montreal. Die verabschiedeten Beschlüsse verpflichten beispielsweise die EU dazu, 30 Prozent aller Lebensräume in schlechten Zuständen bis 2030 wieder zu renaturieren. Ein weiteres Beispiel ist die Zusammenarbeit der Universität Zürich mit indigenen Völkern wie den Kogi in Kolumbien, die über lokales Naturwissen verfügen sowie über das Artenwissen von Tieren, indem sie beispielsweise die Laute von Vögeln deuten können. Länder wie Ecuador, Argentinien, Bolivien, Indien und neuerdings auch Spanien sprechen Ökosystemen eigene Rechte zu. Projekte der Citizen Science und Community Science begeistern BürgerInnen für Umweltschutz. Radikale Neuansätze wie Kohei Saitos „Systemsturz – der Sieg der Natur über den Kapitalismus“ werden plötzlich gesellschaftsfähig.
Amsterdam ist die erste Stadt, die seit 2020 gemeinsam mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Roworth eine Citystrategie nach der „Donut-Ökonomie“ umbaut, in der das Naturkapital gestärkt werden soll, ohne das planetare Grenzen oder das soziale Fundament verletzt werden. Weitere Städte wie Kopenhagen, Birmingham und Portland wollen das Konzept der Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft für ihre Städte übernehmen.

Argumente, Fakten und neue Perspektiven
Dieses Buch ist ein Must-Read! Hier kommen sowohl Wirtschafsweise, als auch Philosophen, Historiker, Juristen und Wissenschaftler zu Wort. Sie bieten einen fachkundigen Blick auf das Thema Artenvielfalt / Biodiversität, das Umweltfreunden jede Menge guter und fundierter Argumente an die Hand gibt. Das konvivale Nachhaltigkeitsprinzip kann Wachstum versprechen, setzt Gelder dort ein, wo sie langfristig am meisten bewirken, verspricht mehr Demokratie, Wissensbildung und ein Leben im Einklang mit der Natur. Denn während Parlamente und Lobbisten miteinander streiten, verhandelt die Natur nicht. Sie macht einfach. Besser für uns, mit ihr und nicht gegen sie zu arbeiten.

Katrin Böhning-Gaese, Jens Kersten, Helmuth Trischler: Rettet die Vielfalt: Manifest für eine biodiverse Gesellschaft
Klett-Cotta, Mai 2025
Taschenbuch, 208 Seiten, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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