Wer sich nicht davor scheut, unangenehmen Fakten ins Auge zu blicken und sich intelligenten Utopien zu öffnen, wird an diesem „Brain-Breaker“ große Freude haben. Kohei Saito verbindet viele unbekannte Theorien des späten Karl Marx mit Ansätzen und Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels. Das liest sich bisweilen atemberaubend – und fürchterlich unangenehm. Zumindest für die klassische Leserschaft der westlichen Industrieländer, die mehr oder weniger allesamt zu den 10-20 Prozent der privilegiertesten Bewohner unseres Planeten gehören.
Mit vielen Daten, Geschichtsreferenzen und mutigen Denkansätzen zeigt der Professor für Philosophie an der Universität Tokio auf, was den Klimawandel bekämpfen könnte, ohne den globalen Süden weiter auszubeuten oder die Arbeiterklasse ausbluten zu lassen: Degrowth-Kommunismus. Ein Begriff, der zunächst abschreckend klingen mag. Zu Unrecht. Oder hätten Sie etwas gegen mehr Freizeit, mehr Mitbestimmung, stabilere Energiepreise und eine saubere Umwelt einzuwenden?
Moderner Marxismus und Klimawandel
Viele Menschen denken beim Begriff Kommunismus an autokratische Herrscher, Mangelwirtschaft und Enteignung. Doch Prof. Kohei Saito, der an der Humboldt-Universität in Berlin promoviert hat und Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe ist, führt uns die Notizen des späten Marx vor Augen, der sich in seinen letzten Lebensjahren viel mit Naturwissenschaften beschäftigt hat. Diese widersprechen den ursprünglichen Lehren zum Teil vehement. Daraus leitet Saito neue Ansätze zur Bekämpfung des Klimawandels ab. Er spart nicht an Kritik mit Ländern wie der Sowjetunion, die den Kommunismus durch neue Diktaturen ersetzt haben, zeigt aber auch auf, warum „grünes Wirtschaftswachstum“ oder der New Green Deal zum Scheitern verurteilt sind. Weder Geoengineering, noch grüne Technologien werden laut Saito den Klimawandel weltweit nachhaltig lösen können. Hierbei werden wir LeserInnen mit Begriffen wie Jevons-Paradoxon, Lauderdale-Paradoxon und dem wahren Preis eines Elektroautos konfrontiert.
Imperiale Lebensweise
Kaito Saito redet nicht lange um den heißen Brei herum: Uns geht’s gut, weil es anderen schlecht geht. Ob Abholzung des Regenwaldes für billiges Palmöl und Rindfleisch, ob Wassermangel und Landschaftsverödung durch den Abbau von seltenen Erden, ob Umweltverschmutzung durch die Produktion von Fast Fashion, ob Zerstörung lokaler Bauerncommunitys durch Saatgut-Megakonzerne: Der Autor bietet unzählige Beispiele, wieso Kapitalismus und unbegrenztes Wirtschaftswachstum seit der Industrialisierung nur funktionieren, weil die Industrieländer (Zentren) den ökologischen Raubbau in die Peripherien (den globalen Süden) verlagert haben. Doch mit dem Klimawandel ist damit Schluss. Die negativen Auswirkungen schwappen durch Extremwetter wie Waldbränden, Überschwemmungen und Mikroplastik im Essen nun langsam auch zu uns. Der Raubbau ist an seinen natürlichen Grenzen angelangt. Weiterhin am bisherigen Kapitalismus festzuhalten, werde nicht funktionieren.
Kapitalismus erzeugt Mangel
Kapitalismus erzeugt Mangel, Kommunismus schafft Überfluss. Dieses Buch ist voller knackiger Aussagen wie dieser. Saitos Argumentation: Nur wenn etwas künstlich verknappt wird, lässt sich damit Geld verdienen. Doch was wäre, wenn Wasser, Land, Bildung und Nahrung frei zugänglich und gemeinschaftlich verwaltet würden? So geschehen in den einstigen Allmenden. Ein weiteres Problem sieht Saito ebenso wie Marx in der kapitalistischen Trennung von Warenwert und Gebrauchswert. Wie kann es sein, dass lebenswichtige Kranken- und Pflegeberufe so schlecht bezahlt werden, während „Bullshit“-Jobs wie Marketing- oder Investmentberater zu den Bestverdienern gehören? Antwort: Der Kapitalismus machts möglich. Weiteres Beispiel: Pharmaunternehmen investieren weniger in die Entwicklung von antiviralen Mitteln, dafür mehr in Tranquilizer und Potenzmittel, weil sich damit mehr Geld verdienen lässt. Folge: Bei globalen Gesundheitskrisen wie Corona verlieren die Industrienationen jegliche Resilienz. Als Lösung leitet Saito den Degrwoth-Kommunismus ab, der eine Entschleunigung der Wirtschaft beinhaltet. Zu seinem 5-Säulen-Programm gehören unter anderem der Fokus auf systemrelevante Arbeit, die Verkürzung der Arbeitszeit und den Zugang zu offenen statt verschlüsselten Technologien.
Vier Endzeit-Szenerien
Sind diese Kapitel für viele bereits schwer zu schlucken, geben die Vier-Zukunftsszenerien – was eintreten würde, falls wir den Klimawandel nicht in den Begriff bekommen – erst recht zu denken. Vom „Klima-Maoismus“, der den politischen Gegebenheiten aus Verboten und Bestrafung während der Pandemie ähnelt, bis hin zum Klima-Faschismus, der das kapitalistische System mit aller Gewalt am Laufen hält und nach dem Zusammenbruch der Ressourcen in der „Barbarei“ mündet. Nun heißt es „Jeder gegen jeden“. Kein schöner Gedanke. Zumal Saito klar ausrechnet: In einem solchen System könnte sich nur das knappe eine Prozent der Superreichen ein Leben wie bisher weiter leisten. Für die übrigen Bewohner der Industrienationen ähnelt das Dasein eher dem in den heutigen Entwicklungsländern. Mauern gegen Klimaflüchtlinge, Bürgerkriege um die letzten Ressourcen …
Geht doch! Klima-Beispiele mit Vorreiterrolle
Dass es nicht so weit kommen muss, zeigt der Autor an vielen Beispielen, die es häufig nicht in die Medien schaffen. Energie-Kooperativen in zahlreichen Städten in Dänemark und Deutschland produzieren eigenen Strom. Barcelona hat 2020 als erste Stadt den Klimanotstand ausgerufen, ein von Bürgern verfasstes 240 Punkte-Programm auf den Weg gebracht und den Weg für eine weltweite „Fearless City“-Bewegung geebnet. Detroit belebt die heruntergekommene Automobilstadt mit gemeinschaftlichen Agrarprojekten, deren Communitys gleichzeitig die Kriminalitätsrate senken. In der ökologischen „Via Campesina“-Bewegung haben sich bereits 200 Millionen (!)Klein- und Mittelbauern zusammengeschlossen, um eigenes Saatgut anzusammeln, nachhaltig und umweltverträglich zu wirtschaften und sich unabhängig von chemischen Düngemitteln und Pestiziden großer Monopolisten zu machen.
Fazit: Kriegen wir mit Degrowth-Kommunismus die Kurve beim Klimawandel? Intelligent, atemlos und unangenehm zugleich kratzt dieses Buch an Greenwashing und Oberflächlichkeiten. Den Jetzt-Zustand der Welt bringt Saito mit schmerzlichen (und weniger bekannten) Fakten ans Tageslicht. Die Lösungen der Zukunft lesen sich hingegen noch als Utopie. Doch erste Beispiele zeigen, dass andernorts bereits vieles möglich ist und sich interessante Communitys, Kooperativen und Bürgerbewegungen gegründet haben. Als LeserIn mag sich jede/r ein eigenes Urteil bilden. Doch sicherlich sind wir uns einig: Degwroth-Kommunismus mag sich unangenehm anhören – eine Zukunftsgesellschaft der „Barbarei“ hört sich hingegen weitaus schlimmer an. Ein Buch zum Diskutieren, Hirnen und Handeln.
Kohei Saito: Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.
Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig.
dtv, Oktober 2024.
320 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
Bücher wie das von Kohei Saito brauchen mehr Aufmerksamkeit. Was wäre, wenn sich jeder Mensch der Reichweite seiner Möglichkeiten tatsächlich bewusst wäre, wenn zum Beispiel der Energieverbrauch für jedes in den sozialen Medien vervielfachte Foto, ggf. noch von KI aufbereitet, schon vor dem „Senden“ bekannt wäre?
Kein Mensch heizt im Winter bei offenen Türen und Fenstern. Wären die noch unsichtbaren Folgen des individuellen Handelns ähnlich (be-)greifbar wie bei der jährlichen Abrechnung mit den Energieversorgern, wäre ein wichtiger Beitrag geleistet.