Friederike Emmerling, Julia Hagen u.a. (Hrsg.): Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden!

Wie viele andere Frauen auch kann ich mich noch gut an das berühmte Buch von Christine Brückner erinnern, das den Titel hatte: Ungehaltene Reden Ungehaltener Frauen. An den Erfolg und vor allem an den Anspruch dieses Buches aus den 80er Jahren knüpft nun diese neue Sammlung ungehaltener Reden an: „Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden!“

Im Gegensatz zum Vorbild, in welchem die Autorin damals fiktive Reden berühmter historischer Frauenfiguren veröffentlichte, handelt es sich beim vorliegenden Band, der von mehreren Autorinnen herausgegeben wurde, um eine Zusammenstellung von Reden heutiger realer Frauen, die einem entsprechenden Aufruf folgten.

Dabei sind Autorinnen, Journalistinnen, Künstlerinnen, Lehrerinnen, Mütter, Töchter, Großmütter und Enkelinnen. Es sind Reden von berufstätigen, erfolgreichen Frauen, von Ehefrauen und Singles, von Opfern von Missbrauch oder sexueller Belästigung, von Unterdrückung oder schlicht von Vergessen und Ignoranz.

Da gibt es Frauen aus allen Teilen Deutschlands und aller Altersstufen, doch eines eint diese Frauen: ihre Wut. Die sie in ihren Reden durchaus und voller Nachdruck vermitteln und ausdrücken. 

Vieles kann ich nachvollziehen, vieles aus eigenem Erleben oder durch Beobachtung verstehen und wiedererkennen. Manches aber erscheint mir eine sehr persönliche Sicht, eine sehr persönliche Wut über sehr persönliche Kränkungen, Verletzungen. Darin liegt der große Unterschied zum Vorbild-Buch von Christine Brückner, deren Reden sich mit dem beschäftigten, was alle Frauen betraf und (leider) oft heute noch betrifft.

Private Abrechnungen

Dies wird im vorliegenden Buch auch angesprochen, keine Frage, doch mehr noch wirken die hier enthaltenen Reden für mich wie teils private Abrechnungen, Aufarbeitungen. Da berichtet die eine von Missbrauch in ihrer Familie, die andere von ungewollter Schwangerschaft. Dass man über solche Dinge sehr wütend sein kann und darf ist unbenommen. Auch dass man darüber reden darf, öffentlich und als Wutrede. Ebenso, dass man dies in gebündelter Form in einem Buch veröffentlichen kann, finde ich absolut berechtigt. Nur weckt dieses Buch in mir andere Erwartungen, treffen diese Reden nicht das, womit ich rechne, insbesondere wenn man das Vorwort liest, welches explizit den Bezug zu den Ungehaltenen Reden von Christine Brückner herstellt.

Davon unabhängig halte ich dieses Buch für wichtig und richtig und möglichst viele Menschen, gerne und vor allem auch Männer, sollten es lesen.

Friederike Emmerling, Julia Hagen u.a. (Hrsg.) – Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden!
S. Fischer, Februar 2023
Taschenbuch, 207 Seiten, 18,00 €

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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