Rund 250 Seiten pures Staunen! Nach dieser Lektüre sehen Sie die Welt mit anderen Augen. Und sich selbst ebenso. Wussten Sie, dass wir genetisch gesehen etwa fünfmal mehr Virus als Mensch sind? Erst durch die teilweise unglaublichen Symbiosen zwischen Tieren, Pflanzen, Bakterien und Archaeen, wurde unser Planet bewohnbar. Dirk Brockmann zeigt uns eine andere oder ergänzende Sichtweise zu Darwins „Survival of the Fittest“. Evolution, so der Autor, habe nur in Verbindung mit Kooperation und Symbiose stattfinden können. Ansätze, die wir auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen unserer Zeit übertragen können.
Bereits der Einstieg offenbart Brockmanns besondere Art der Wissensvermittlung. Er nimmt uns mit auf ein Gedankenexperiment, in dem er die Welt aus Sicht von Aliens betrachtet. Gekonnt führt er uns auf eine falsche Fährte – und erhält unsere volle Aufmerksamkeit.
Ohne Retroviren keine Babys
Survival of the Nettest zeigt, wie sich Einzeller zu komplexen Lebewesen entwickeln konnten. Erkenntnis: Unser Dasein haben wir Networking, vor allem mit vermeintlich unbeliebten Darstellen wie Viren und Bakterien, zu verdanken. Ohne Retroviren wären wir nicht in der Lage, Erinnerungen abzuspeichern. Oder Babys auszutragen. Ein Gen retroviralen Ursprungs bildet eine Zellschicht, die verhindert, dass das Immunsystem der Mutter den Embryo als Fremdkörper angreift. Als weitere Netzwerkspezialisten werden Ameisen, tanzende Bienen und hochintelligente Pilze aufgeführt. Diese Meister der verzweigten Symbiosen brechen alle Weltrekorde. Ein Pilz der Sorte Hallimasch mit 35.000 Tonnen Gewicht, einem Durchmesser von 8,8 Quadratkilometern und einem Alter von 8000 Jahre als das schwerste, größte und älteste Lebewesen der Welt!
Bakterien, die glücklich machen
Jürgen Brockmann fordert dazu auf, die Darwinistische Sichtweise, mit der wir alle sozialisiert wurden, zu hinterfragen und rückt alternative und ergänzende Theorien anderer Wissenschaftler ins Feld. Ein Umdenken scheint bereits stattzufinden – so rückte die Bedeutung einer gesunden Darm-Mikrobioms aus „guten“ Bakterien in den letzten Jahren verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit. Studien ergaben: Menschen mit einem diversen, vielschichtigen Mikrobiom haben einen dreifach höheren Spiegel des Glückshormons Serotonin. Brockmanns Resümee: „Kooperation erzeugt Biodiversität, Wettbewerb optimale Anpassung. Kooperation und Wettbewerb befruchten sich.“ (S. 164). Gemäß dem Leitsatz „Innovation durch Kooperation.“
Tierische Dragqueens, Feministen & Misch-Spezies
Manche Symbiosen bringen Erstaunliches hervor. Wie ein Best-of-Frankenstein mutet das Kapitel „Freak Show“ an. Von Höllenwürmern zur Wasserschnecke Elysia chlorotica ist alles dabei. Letztere ähnelt einem Mischwesen aus Schneckenkopf mit Blattkörper. Es ist ein Tier, das Photosynthese betreiben kann. Das „skandalöse Rädertierchen“ dürfte Macho-Männern den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Seit etwa 40 Millionen Jahren pflanzt es sich als komplexes, multizelluläres Tier mit sich selbst fort, ausschließlich in Frauenform. Es wird deutlich, dass der hochgebildete Homo Sapiens in Genderdiskussionen Jahrmillionen hinterherhinkt. Beispielsweise können im artenreichsten Biotop der Erde – den Korallenriffen –30 Prozent aller dortigen Lebewesen ihr Geschlecht ändern. Spitzenreiter der tierischen Drag Queens ist der Gemeine Spaltblättling. Ein Pilz, der sage und schreibe 23.328 Geschlechter hat!
250 Seiten voller Wow-Momenten
Der studierte Physiker, Mathematiker und Gründungsdirektor des Zentrums „Synergy of Science“ in Darmstadt, schafft es nicht nur, komplexe Sachverhalte logisch und informativ darzustellen. Er baut dazu jede Menge Humor ein. Als Sahnehäubchen hat er sein Buch selbst illustriert und häufig augenzwinkernd kommentiert. So macht Wissenschaft rundum Spaß! Am Ende folgen Appelle zum Klimaschutz und dem Erhalt der Biodiversität sowie ein Dialog mit ChatGPT als neuerliche Vernetzungsebene zwischen Mensch und Maschine.
Fazit: Selten hat mich ein Sachbuch so erstaunt! Wenn Sie sich das nächste Mal über einen Schnupfen ärgern, sollten Sie das Ganze ins richtige Verhältnis setzen. Von den rund 30 Billionen Bakterien auf der Erde sind nur 1400 krankmachende Keime bekannt. Auf genetisch-zellulärer Ebene sind wir mehr Bakterie als Homo sapiens. Sogar viel mehr…
Dirk Brockmann: Survival of the Nettest – Wie die Natur durch Kooperation unsere Welt gestaltet.
dtv, Juni 2025.
288 Seiten, gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
