Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus

Die 1940 geborene französische Schriftstellerin Annie Ernaux hat ihren Bekanntheitsgrad vor allem durch ihr autobiografisches Schreiben geprägt. Sie bezeichnet sich nach eigener Aussage als „Ethnologin ihrer selbst“. Ihre Romane wurden vielfach gefeiert und mit Auszeichnungen versehen. Im Jahr 2022 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen.

In unserem Leselustportal sind fünf weitere Romane von Annie Ernaux zu finden: Erinnerung eines Mädchens (2018), Eine Frau (2019), Der Platz (2020), Der junge Mann (2023), Eine Leidenschaft (2024).

Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“  ist der letzte Satz, den die Mutter von Annie Ernaux aufgeschrieben hat. In ihrem neuen Buch beschreibt Ernaux den Zerfall ihrer unter der Alzheimer-Erkrankung leidenden Mutter. Lange Zeit verwahrte sie ihre persönlichen Notizen über diese letzte schwere Zeit mit der Mutter in einer Schublade, bevor sie sich nach über zehn Jahren doch noch für die Veröffentlichung entschied.

Annie Ernaux sieht ihre Aufzeichnungen als „Überrest eines Schmerzes“ (E-Book S. 13).

Die beginnende Krankheit der Mutter beschreibt Ernaux mit einer zunehmenden Apathie und einem  Kontrollverlust der Mutter. Die zuvor fest im Leben stehende Frau findet ihre persönlichen Gegenstände nicht mehr und entwickelt eine egoistische Grundhaltung. Sie beginnt, Brot zu verstecken und benötigt immer mehr Hilfe. Sie verliert ihr Gebiss, greift oft ins Leere. Irgendwann sucht sie nicht mehr nach ihren verloren geglaubten Gegenständen, irgendwann zählt für sie nur noch das Grundbedürfnis zu essen. Die Rollen vertauschen sich, die Mutter wird zur Tochter und die Tochter zur Mutter. Die alte Frau beginnt, ihrer Tochter ängstlich zu gehorchen.

Den Persönlichkeitsverlust der geliebten Mutter mitzuerleben, macht das Leben schwer für Annie Ernaux. Dabei lebt sie in ständiger Angst, dass die Mutter sterben könnte. Dann, als es soweit ist und die Mutter gegangen ist, fühlt sie keine Erleichterung. Ihr Verlust wiegt schwer. Die Mutter war ihr in ihrer Verrücktheit lieber als tot.

Ein empathischer, sehr persönlicher Text, der alle Facetten eines Persönlichkeitsverlusts schonungslos ehrlich aufzeigt.

Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus.
Übersetzung aus dem Französischen: Sonja Finck.
Suhrkamp, April 2025.
106 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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