Der Roman beginnt mit dem Ende, dem Tod der Mutter. Annie Ernaux beschreibt durchdringend, wie sie dieses Ende erlebt und blickt zurück in ihre Kindheit und das einstige Leben ihrer Mutter. Sie verbindet die Vergangenheitsbewältigung mit dem Eintauchen in das Leben einer Frau, die um die Jahrhundertwende in der Normandie geboren wurde. Die Wahrheitsfindung ist nicht leicht, denn das Ende dieser Frau und Mutter wurde von einem langsamen Zerfall durch die Alzheimerkrankheit geprägt. Die Mutter war eine Frau gewesen, die immer kämpfte. Für ihren eigenen Status und den der Familie und dafür, dass die Tochter ein besseres, ein gutes Leben haben sollte. Die Erinnerungen an früher lassen Bilder aufleben an eine Mutter in farbenfrohen Kleidern, die sich von der Arbeiterin zur Ladenbesitzerin hinaufarbeitet, sich um Bestellungen und Abrechnungen kümmert, über das Geld herrscht und deren größter Wunsch es immer war, der Tochter all das zu geben, was sie selbst nicht gehabt hatte.
Mit dem Vater hatte sie Spaß, erinnert sich Annie Ernaux. Die Mutter war, hineingeboren in ein beherrschtes Milieu, das sie hinter sich lassen wollte, die Dominante, das Gesetz. Problemhaft war später die eigene Pubertät und der von Restriktionen und Scham begleitete Kampf der Mutter, das junge Mädchen nicht erwachsen werden zu lassen.
Am Ende stehen für Annie Ernaux Versöhnung, Trauer und die Erkenntnis, mit dem Tod der Mutter die Brücke zu der Welt aus der sie stammte, verloren zu haben.
Dieser nur 88 Seiten starke Text ist, wie Annie Ernaux es selbst am Schluss formuliert, „weder Biografie noch Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung“ (eBook S.88) – auf jeden Fall aber wie in ihrem bei SL bereits besprochenen Buch „Erinnerungen eines Mädchens“ ein sehr intimes Bekenntnis.
Annie Ernaux: Eine Frau.
Suhrkamp Verlag, Oktober 2019.
88 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.