In ihrem autobiografischen Buch „Der Platz“ schreibt die 1940 geborene Annie Ernaux vom Leben ihres Vaters, was natürlich auch mit ihrem eigenen Aufwachsen im Elternhaus in der Normandie verbunden ist. In Frankreich erschien das Buch „La place“ bereits 1983.
Wie in den beiden hier bereits besprochenen Büchern der Autorin „Eine Frau“ und „Erinnerung eines Mädchens“ bleibt Ernaux ihrem sehr persönlichen, eindringlich emotionalen Stil treu.
Ausgehend vom Tod des Vaters ruft sie die mit ihm verbundenen Erinnerungsbilder in sich wach.
Aus einfachem Bauernstand stammend und geprägt von den Kriegsjahren war dem Vater geistige Kultur fremd. Vom Fabrikarbeiter arbeitet er sich zum Kolonialwaren- und Kneipenbesitzer hoch, worauf er stolz ist. Doch das Stigma vom armseligen Leben der Unterschichtenklasse wird er zeitlebens nicht los. Sein Respekt vor jenen, die ihm schon immer gesellschaftlich und intellektuell überlegen sind, lässt ihn verstummen, er flüchtet sich in Angepasstheit. Annie selbst genießt eine höhere Schulbildung, studiert und wird Lehrerin. Schon in jungen Jahren entfremdet sie sich immer mehr vom Vater. Dabei erfährt sie, die Tochter, einerseits den väterlichen Respekt der mit Stolz verbunden ist, gleichzeitig spürt sie die Kluft des Klassenunterschieds innerhalb der eigenen Familie immer stärker. Als der Vater stirbt, hat sie ihr Examen zur Studienrätin abgelegt, was sie selbst dem Vater gegenüber als eine Art Grenzübertretung empfindet.
Schreiben wird für Annie Ernaux zur Selbstreflexion und Befreiung, so kann sie ihren Frieden finden und sich dem schambehafteten Vaterbild annähern. So ist ein persönliches Porträt entstanden, das gleichzeitig Zeit- und Milieustudie ist.
Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Sonja Finck.
Annie Ernaux: Der Platz.
Suhrkamp, Dezember 2020.
95 Seiten, Taschenbuch, 10,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.