Anne Stern: Wenn die Tage länger werden 

Ein wunderbar einfühlsamer, emotionaler, manchmal traurig machender und doch positiver Roman.
Lisa, die Protagonistin sieht man direkt vor sich. Immer abgehetzt, eigentlich nie mal richtig ausgeschlafen, voller Selbstzweifel, weil sie glaubt, es keinem, auch sich selbst nicht, recht zu machen. Ihr Selbstbewusstsein ist irgendwann zwischen „ich werde sicher keine berühmte Violinistin“ und Pauls Geburt auf der Strecke geblieben. Statt Violinistin zu werden, wie ihre Mutter sich das erträumt hatte, schließlich hat Lisa das Talent vom Großvater geerbt, hat Lisa Musik für Lehramt studiert und unterrichtet mehr oder weniger begeistert. Seit Janusz, Pauls Vater vor gut einem Jahr aus beruflichen Gründen von Freiburg nach Oldenburg gezogen ist, lebt Lisa mit dem inzwischen sechsjährigen Paul in einer kleinen, ständig unaufgeräumten Wohnung, alleinerziehend mit Teilzeitstelle, ohne wirkliches Back up, wenn’s mal hakt. Lisas Verhältnis zu ihrer Mutter ist nicht besonders gut, schon gar nicht innig, Barbara ist gehört nicht zu der Sorte Oma, die sich drum reißt, Zeit mit dem Enkel zu verbringen. Auch wirkliche Freundinnen hat Lisa nicht, auf die sie zurückgreifen könnte. Da ist eigentlich nur Nina, aber deren Leben ist völlig anders als Lisas.

Jetzt gibt es Sommerferien, und Lisa freut sich, den ganzen Sommer vor und für sich zu haben. Paul wird drei Wochen der Ferien mit seinem Vater in Polen bei den Großeltern verbringen. Lisa hat alle Zeit der Welt für sich. Doch kaum ist Paul abgereist, vermisst Lisa den Kleinen natürlich und weiß nicht mehr so richtig, was sie mit ihrer Zeit machen soll. Auf dem Dachboden liegt doch noch ihre alte Geige – die könnte sie ja mal wieder vorholen und vielleicht auch mal wieder spielen. Doch die Geige ist in einem recht desolaten Zustand und muss erst mal generalüberholt werden. Der alte Geigenbauer, zu dem Lisa sie daher bringt, fragt sie sehr genau nach der Herkunft der Geige aus, weil er vermutet, dass sie wesentlich älter ist als auf dem Schildchen im Gehäuse. Damit kommt ein richtig dicker Stein ins Rollen. Lisa fängt an, sich mit der Vergangenheit ihrer Geige und damit ihrer Familie auseinanderzusetzen. Ein Thema, über das nie gesprochen worden ist. Auch ihre Mutter weicht ihr zunächst aus und erklärt, nichts zu wissen. Dass der Großvater ein Nazi war, war zwar bekannt, aber welche Rolle er wirklich gespielt hat und wie er an die Geige gekommen ist, das war nie ein Thema. Ist es aber jetzt. In vielen Gesprächen, die auch Lisa nicht leichtfallen, mit Menschen, die die Zeit noch erlebt haben, mit der Geige irgendwie in Verbindung gebracht werden können, kommt Lisa nach und nach dem Geheimnis ihres alten Musikinstrumentes auf die Spur. Ein Sommer, der Lisa verändert, ihr Leben neu gestaltet und ihr ein ganz neues Selbstvertrauen bringt.

Ein wunderbarer Roman, der sicher viele anrührt. Der Themen anspricht, die bestimmt in vielen Familien nie offen angesprochen wurden oder nur am Rande erwähnt, über Freundschaften, die man mit Menschen knüpfen kann, wenn man auf sie zugeht und sie an sich ranlässt. Über Mütter und Töchter und die Träume, die nicht verwirklicht werden. Warmherzig und einfühlsam. An manchen Stellen zornig und sarkastisch. Realistisch und emotional. Eine Sprache, die einen mitnimmt und eine Geschichte, die einen nicht mehr loslässt.

Anne Stern: Wenn die Tage länger werden
Aufbauverlag, März 2025
383 Seiten, Hardcover, 23,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

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