Die Kanadierin Morgan Dick (Jahrgang 1993) hat mit „Mickey und Arlo“ ihren Debütroman geschrieben. Das Buch ist am 18. Februar 2025 bei hanserblau im Carl Hanser Verlag erschienen. Übersetzt wurde es von Wibke Kuhn.
„Mickey und Arlo“ – eine Familiengeschichte in der Therapie
Michelle und Charlotte, Mickey und Arlo, sind Halbschwestern. Sie kennen sich nicht. Ihr gemeinsamer Vater Adam hat Mickey und ihre Mutter Deborah verlassen, als Mickey sieben Jahre alt war. Er gründet mit Leonora eine neue Familie, sie bekommen eine Tochter Charlotte. Adam Kowalski ist Alkoholiker und stirbt daran. Arlo, inzwischen Psychologin, trauert um ihn. Sie hat sich bis zum Schluß intensiv um ihn gekümmert. Deshalb ist sie enttäuscht und wütend, als sie erfährt, dass Adam sein Testament geändert hat. Statt ihrer soll nun ihre unbekannte Halbschwester fünfeinhalb Millionen Dollar erben.
Mickey ist ebenfalls überrumpelt, als sie durch den Rechtsanwalt Tom Samson von der Erbschaft erfährt. Allerdings hat das Erbe einen Haken. Adam hat verfügt, dass Mickey das Geld nur dann erhält, wenn sie sieben Therapiestunden absolviert. Und zwar bei Arlo. Mickey nimmt an, ohne zu wissen, dass die Psychologin, der sie gegenüber sitzt, ihre Halbschwester ist. Arlo ahnt zunächst auch nichts. Findet aber bald heraus, wer ihre Klientin ist.
Mickey ist Vorschullehrerin und alkoholkrank. Sie gibt ihrem Vater die Schuld an ihrer Sucht und ihrer Beziehungsunfähigkeit. Mit ihrer Mutter Deborah hat sie kaum Kontakt. Sie liebt ihre Vorschulkinder, ist aber als disziplinarische Maßnahme beurlaubt.
Die Therapie wird zu einer intensiven und schmerzhaften Kraftprobe für beide Schwestern, bei der sie sich ihrer selbst und ihrer Familiengeschichte stellen müssen.
Wen hat der Vater mehr geliebt?
Morgan Dicks Debütroman trägt im Original den Titel „Favourite Daughter“ und dieser beschreibt das Grundproblem von Mickey und Arlo auf höchst zutreffende Weise. Mickey hat den Verlust ihres Vaters nie verwunden, sie fühlt sich alleingelassen und ungeliebt. Arlo hingegen fühlte sich immer als einzige und geliebte Tochter ihres Vaters. Dabei haben beide Töchter unter dem Egoismus, der Gewalttätigkeit und der Sucht ihres Vaters gelitten. Morgan Dick beschreibt die Dysfunktionalität der beiden Familien, die Auswirkungen auf die Kinder und später auf die jungen Frauen. Mickey wird selbst alkoholkrank. Und die erfolgreiche Psychologin Arlo stellt sich die Frage: Wen hat ihr Vater mehr geliebt?
„Mickey und Arlo“ von Morgan Dick ist ein sehr gelungenes Romandebüt
„»Meiner Tochter Michelle hinterlasse ich eine Summe von fünfeinhalb Millionen Dollar…Ich verfüge daher, dass diese Summe in treuhändischer Verwaltung bleibt, bis Michelle sieben fünfzigminütige Psychotherapiesitzungen absolviert hat.«“ (S. 24)
Dieser Stoff hätte zu trockener Psychologisierung führen können, aber nicht bei Morgan Dick: ihre Geschichte hat Witz und Tiefe, ihre Figuren sind chaotisch und liebenswert, ihre Sprache ist lebensnah und natürlich. Nach eigener Aussage kennt sich Dick mit psychischen Erkrankungen aus und diese Erfahrungen liest man aus ihrem Roman heraus. Einfühlsam und respektvoll beschreibt sie die Mechanismen von Suchterkrankungen und den Co-Abhängigkeiten von Angehörigen. Ihre Geschichte tänzelt geschickt um die Fragen, wie gewinne ich als Tochter die Anerkennung und die Liebe des Vaters? Und warum ist diese Liebe so wichtig, dass es mein Leben als erwachsene Frau weiter prägt? Und das obwohl sich der Vater im höchsten Maße unzuverlässig und rücksichtslos verhält. Morgan Dicks Protagonistinnen, Mickey und Arlo, sind ganz hinreißend verschieden und sich doch so viel näher, als beide ahnen. Als Leserin bin ich von Seite zu Seite gespannt, mehr zu erfahren, und bange mit den Figuren einer Lösung entgegen.
Einzig den Schluss hätte ich um ein paar Sätze gekürzt (der Wink mit dem Zaunpfahl ist unnötig) und mit dem Dialog beendet. Das wäre pfiffiger gewesen.
So kann ich mit Fug und Recht von einem sehr gelungenen, guten Romandebüt sprechen und hoffen, dass Morgan Dick des Schreibens nicht müde wird.
Morgan Dick: Mickey und Arlo. Zwei Schwestern. Sieben Therapiestunden. Ein Problem.
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn.
hanserblau im Carl Hanser Verlag, Februar 2025.
416 Seiten, Hardcover, 23,- Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.