Alexa Hennig von Lange: Vielleicht können wir glücklich sein

Ein würdiger Abschluss der zu Herzen gehenden Trilogie. Der dritte Band gipfelt in emotionalen, ergreifenden Momenten. Schließlich begleiten wir Klara – ehemals Heimleiterin einer Ausbildungsstätte für sozial benachteiligte Mädchen, die kranke oder verwaiste Kinder pflegten – in den Beginn des 2. Weltkrieges. Diesen muss sie ohne Ehemann mit vier kleinen Kindern allein bewältigen. Wie schon in den Vorgängerbänden wird die Handlung zum Teil aus Sicht ihrer Enkeltochter Isabell erzählt, die nach dem Tod ihrer Großmutter Klara deren geheime Tonbandaufzeichnungen findet und dabei schrecklichen Familiengeheimnissen auf die Spur kommt.

Höhepunkt der ergreifen NS-Trilogie
Während ihr Ehemann Gustav, ein liebenswerter Lehrer, an die Front eingezogen wird, kämpft sich Klara durch den Kriegsalltag. Medikamente, Lebensmittel, Kleidung – es mangelt an allem. Immer mehr deutsche Städte werden durch Bombardements dem Erdboden gleich gemacht, die Alliierten preschen von allen Seiten vor. Obwohl der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, verheizt der Führer in einem letzten Aufbegehren sogar schon vierzehnjährige Kinder und alte Greise an der Front.

In Sandersleben, wo Klara jahrelang ein Heim für junge Mädchen und kranke Kinder geleitet hat, ist der Krieg zum Glück noch weit weg – und doch andererseits ganz nah. Vor allem die Ungewissheit um ihre jüdische Ziehtochter Tolla, die sie eigentlich in einem Kinderzug nach England schicken wollte, der allerdings nie ankam, lastet schwer auf Klara. Nun ist Tolla offenbar im „Schutzlager“ Theresienstadt gelandet, wie es die Reichspropaganda beschönigend verlauten lässt. Doch Klara beschleichen immer mehr Zweifel. Gleichzeitig plagen sie schreckliche Gewissensbisse. Hat sie Tolla weggeschickt, um das Kind zu schützen – oder vielmehr aus Angst um sich selbst?

Alltägliche Schrecken des Krieges
Zwei Dinge machen diese Trilogie so außergewöhnlich. Erstens: Alexa Hennig von Lange schafft es,  den Krieg in alltäglichen und gerade deshalb so berührenden Momenten in all seiner Härte darzustellen. Da ist eine Frau, die bei der Ausgabe der knappen Lebensmittelrationen von der hungrigen Meute zu Tode getrampelt wird. Sechsjährige, die mit dem Pflug hantieren, weil der Vater an der Front ist. Die beengte Angst im Schutzbunker, wo sogar Babys das Weinen einstellen und die Luft anhalten, weil sie instinktiv die Gefahr spüren. Männer, die nur noch als abgestumpfte Hülle heimkehren und sich zurückziehen, um ihre Familien nicht mit all dem Leid zu „beschmutzen“.

Es sind Szenen wie diese, die sofort zu Herzen gehen. Gustav ist auf Fronturlaub zurück, als ihm ein Puppenkleid seiner Tochter verdächtig bekannt vorkommt. Klara hat ihr eigenes Hochzeitskleid zerschnitten, um daraus Kleider für die Kinder und deren Puppen zu nähen. „Gustav sah sie aus seinen tiefliegenden Augen an. Als wäre mit dem Zerschneiden des Kleides gleichzeitig die schöne Erinnerung an ihre Hochzeit abgeschnitten worden. Als wäre alles ausgelöscht worden, was ihm jemals etwas bedeutet hatte.“ (S. 148)

Empathie statt Anklage
Zweitens schafft es die Autorin sich dem Thema „Wie konnte das passieren?“ mit viel Empathie und ohne Schuldzuweisungen zu nähern. Sie entwirft ein äußerst differenziertes Bild davon, was es heißt, in einer Gesellschaft zu leben, in der sich die breite Masse gegen die Menschlichkeit gewandt hat. Zwischen glühendem Führerkult, purer Verdrängung, Angst vor Repressalien und schierer Ohnmacht schwanken ihre ProtagonistInnen. Sie wollen nur überleben – und vielleicht irgendwann wieder glücklich sein. Doch das Buch zeigt, dass die Rückkehr zur Normalität nicht einfach ist. Alle haben auf ihre Weise Verluste erlitten, sich blenden lassen, gegen eigene Überzeugungen gehandelt und Verbrechen begangen, sei es aktiv oder passiv. Dies verfolgt die Familien teilweise noch Generationen später. Sogar Klaras Enkeltochter Isabell, die als junge Mutter nicht nur den unbeschwerten Berliner Nächten hinterhertrauert, sondern auch dem Umstand, dass sie ihre wahre Großmutter erst kurz vor ihrem Tod richtig kennengelernt hat. Erst dann, als diese ihren Schutzpanzer fallen ließ.

Fazit: Ein großartiges, feinfühliges, mitten aus dem Leben gegriffenes Buch über die Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, als Menschen wie du und ich in die Mühlen des Nationalsozialismus gerieten. Nach „Die karierten Mädchen“ und „Zwischen den Sommern“ beruht auch der dritte Band zum Großteil auf Erfahrungen und Geschichten von Alexa Hennig von Langes Großmutter. Lediglich die Figur des jüdischen Mädchens Tolla hat die Autorin fiktiv in die Geschichte verwoben. Aus gutem Grund – das reale Vorbild hat überhaupt erst zur Entstehung des Buches geführt, wie wir aus dem Nachwort erfahren. Was das alles mit Woodstock zu tun hat? Lesen Sie selbst.

Ein Buch, das in jeder Zeile „Nie wieder“ ausdrückt. Es kommt genau zur richtigen Zeit. Jetzt.  

Alexa Hennig von Lange: Vielleicht können wir glücklich sein.
Dumont, August 2024.
368 Seiten, Hardcover, 23,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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