Wie konnte das Jahrhundertunglück des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts passieren? Was machte die Masse an Menschen, die weder mit dem System sympathisierten, noch in den Widerstand gingen? Im zweiten Teil ihrer Trilogie nach „Die karierten Mädchen“ zeichnet Autorin Alexa Hennig von Lange anhand den Tonband-Aufzeichnungen ihrer Großmutter das Bild einer verlorenen Generation nach. Von Menschen, die weder Helden noch Verbrecher waren, die einfach nur weitermachten, Tag für Tag, um sich und ihre Familien zu schützen. Von Menschen, die aus lauter Scham ihr Leben lang nicht über jene Zeit reden wollten. „All die Ämter und Funktionen, die einzunehmen, die Ehrenauszeichnungen, die zu erreichen waren, all die Verdienste für das deutsche Volk. Sie hatten sich alle davon blenden lassen – und nun saßen sie in verdunkelten Häusern. Längst ging es nur noch um das nackte Überleben und nicht mehr um das, was irgendwann einmal nach dem Versprechen einer wunderbaren Zukunft geklungen hatte.“ (S.295)
Zweiter Band der „Heimkehr-Trilogie“
Dieser Roman setzt im Anschluss an „Die karierten Mädchen“ ein. Wir schreiben das Jahr 1939. Klara ist Leiterin des Frauenbildungsheims in Sanderleben, in dem nicht nur kranke Kinder versorgt, sondern auch junge Frauen als Erzieherinnen und Hauswirtschafterinnen auf ihre Zukunft vorbereitet sollen. Sehr zum Leidwesen von Klara hat sich der Lehrplan längst dem nationalsozialistischen Gedankengut gebeugt. Das Ideal der freien, selbstbewussten Frau, welches Klara den jungen Mädchen vermitteln wollte, ist längst dem gebärfreudigen Mutterideal der NS-Zeit gewichen.
Privat hätte Klara allen Grund zur Freude: Sie heiratet ihre große Liebe Gustav. Doch zwei Schatten trüben ihr Glück. Zum einen wird Gustav, noch bevor er als Lehrer richtig durchstarten kann, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Wehrmacht einberufen. Zum anderen kann Klara nicht überwinden, dass sie ihre jüdische Ziehtochter Tolla hergegeben hat, um sie mit einem Kindertransport in das sichere England zu schicken. Denn offenbar ist etwas auf der Reise schiefgelaufen und die 10-Jährige sitzt in Tschechien fest. Diese Passagen lesen sich besonders schmerzhaft. Denn im Gegensatz zu Klara wissen wir Leser aus heutiger Sicht, was sich hinter Begriffen wie „Theresienstadt“ wirklich verbirgt – und dass Klaras Postkarten und Proviantpäckchen, die sie ihrer Tochter ins „Schutzlager“ schickt, niemals bei der Empfängerin ankommen werden. Obwohl Klara dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, plagt sie das immerwährende, schlechte Gewissen, welches ihr eigenes Familienglück stetig überschattet. Im Laufe des Krieges bringt sie drei Kinder zur Welt – und kann das vierte nicht vergessen, dem all die Liebe vorenthalten bleibt.
Kriegsjahre zwischen Verblendung, Scham, Überleben
Klaras Geschichte wird von ihrer Enkeltochter Isabell aufgearbeitet, die im Jahr 2000 nach dem Tod der erblindeten Großmutter kistenweise besprochene Kassetten findet, auf denen Klara ihre Lebensgeschichte festgehalten hat. Für Isabell und ihre Mutter ist diese geschichtliche Aufarbeitung eine andere Art von „Heimkehr“. Die Großmutter, die stets so streng und unnahbar auf Isabell gewirkt hat, erscheint ihr plötzlich in einem ganz anderen Licht. Die harten Kriegsjahre, die aufgeladene Schuld, der Druck als alleinerziehende Mutter und Heimleiterin stets funktionieren zu müssen – und dabei zum Überleben aller auch mit NS-Funktionärenzusammenarbeiten zu müssen – haben ihren Charakter geprägt.
Unaufhaltsam verfolgen wir Leser im zweiten Teil der Trilogie, wie Deutschland nach und nach den Abgrund rutscht. Das Leid der Flüchtlinge, deportierte Widerstandskämpfer, Bombardements, Nahrungsmittelknappheit sowie junge Männer, die mitten aus dem Leben gerissen wurden und niemals von der Front heimkehrten. Alexa Hennig von Lange schildert dies in bedrückenden Bildern. Sie beobachtet einfühlsam und bewertet nicht. Ihr Fokus ruht auf den inneren Kämpfen ihrer Hauptfiguren. So fragen sich Klara und Gustav immer wieder, warum sie nicht früher erkannt haben, wo der Nationalsozialismus enden würde. „Das Leben schob einen ins Ungewisse voran und verlangte gleichzeitig nach Sicherheit. Natürlich hatten sie gehofft, dass es doch nicht so schlimm werden würde, und das hatte sie weitermachen lassen, bis zu diesem Punkt.“ (S. 188)
Nicht Helden, sondern Alltagsmenschen
Ein Buch, das bewegt und aufrüttelt, ohne auf reißerische Effekte zu setzen. Von Lange bleibt ganz nah an den Alltagsproblemen ihrer Protagonisten, schildert das herkömmliche Leben zwischen Verblendung, Erwachen, Schuld, Leid und dem Willen zum Überleben. Dieser Roman kommt genau zur richtigen Zeit, in der antisemitische Parolen und Verharmlosungen erneut gesellschaftsfähig zu werden drohen. Denn die abwechselnd aus Klaras und Isabells Sicht erzählten Kapitel zeigen, dass die Auswirkungen der NS-Zeit noch Generationen später Wunden in den Familiengeschichten hinterlassen haben. Nicht zuletzt aufgrund der autobiografischen Bezüge ist dieses Buch so nahbar wie bewegend.
Alexa Hennig von Lange: Zwischen den Sommern: Heimkehr 02.
DuMont Buchverlag, August 2023.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.