Die karierten Mädchen: Jene fesch im karierten Dirndl auflaufenden jungen Frauen erhalten im Waisenhaus Oranienbaum eine Hauswirtschaftsausbildung, bekochen und beaufsichtigen die kleinen Bewohner. Zwar versucht die junge Lehrerin Klara, ihren Schützlingen Individualität beizubringen, doch steht dies im größtmöglichen Gegensatz zu den Lehren des Nationalsozialismus. Hier soll die Frau dem Führer vor allem reinrassige deutsche Kinder schenken. Und die Dirndl? Nun ja, der Führer liebt Bayern und sein Kehlsteinhaus bei Berchtesgaden.
Die 93-jährige blinde Klara beginnt, die verdrängten Ereignisse ab 1929 auf Kassetten aufzusprechen. Nicht einmal ihre vier Kinder wissen vom dunklen Fleck ihrer Vergangenheit. Als junge Frau in Oranienbaum ist sie noch voller Träume. Beseelt von dem Gedanken den verwaisten und kranken Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Und den jungen Hauswirtschafterinnen aufzuzeigen, dass es für sie eine selbstbestimmte Zukunft abseits von Hochzeit und Unterwerfung geben kann. Doch ein Ereignis bringt die pflichtbewusste Klara dazu, die Regeln zu brechen.
Die kaum einjährige Tolla wird von einer Sozialarbeiterin ins Heim gebracht. Die Mutter suche nach Arbeit und wolle das Kind so lange hier unterbringen, obwohl weder sie noch der Staat finanziell dafür aufkommen können. Klara und ihre Freundin, die Kinderkrankenschwester Susanne, nehmen sich der Kleinen heimlich an. Doch die Mutter taucht nie wieder auf, angeblich Selbstmord. Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass Tolla ein jüdisches Mädchen ist. Und gegen die Juden macht der Staat gerade mächtig Propaganda. Da Tolla und Klara beide rote Haare haben, gibt Klara die Kleine fortan als ihre eigene Tochter auf – in der Hoffnung, nicht aufzufliegen.
Lange unterschätzt Klara die Entwicklung der folgenden Jahre. Denn sie hat zunächst andere Sorgen. Als die Heimleiterin stirbt, Klara die Leitung übernimmt und das Kinderheim vor massiven Geldproblemen steht, fällt sie eine folgenschwere Entscheidung. Sie kann das Heim nur vor dem Ruin bewahren, indem sie sich neue Investoren sucht. Genauer: Indem sie das Heim verstaatlicht. Dies bedeutet, dass Klara nun genau mit den Personen und NS-Funktionären zusammenarbeiten muss, die gegen Juden hetzen und Werte propagandieren, die Klara eigentlich zuwider sind. Erst als sie sich in den angehenden, systemkritischen Lehrer Gustav verliebt, wird Klara langsam das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Denn plötzlich werden jüdische Geschäfte geplündert, Synagogen abgebrannt und Menschen deportiert. Wieder muss sie eine folgenschwere Entscheidung fällen – mit der sie bis heute keinen Frieden machen kann.
Einfühlsam beschreibt Alexa Hennig von Lange die paradoxe Welt jener Zeit, die gewaltigen Umbrüche zwischen 1929 und 1938, das unaufhaltsame Abgleiten von der Demokratie in die Diktatur. Dabei wertet sie nicht, sondern versucht, die kognitive Dissonanz ihrer Protagonisten auf nachvollziehbare Weise darzustellen. Sich wider besseres Wissen anzupassen, um die eigene Familie nicht zu gefährden, den guten Ruf, die berufliche Perspektive. Zu denken, dass alles doch irgendwie gut werden und die „Phase“ des Nationalsozialismus schon bald vorbeigehen würde. Auch den Reiz der Gruppendynamik, das Gefühl, in etwas Machtvollem aufzugehen, schildert die Autorin glaubhaft. Sie macht spürbar, welche Faktoren dazu geführt haben, dass sich der Nationalsozialismus ausbreiten konnte – und dies auch heute wieder könnte.
Wie jene Szene am Bahnhof, kurz nach einem Pogrom gegen Juden: „Langsam kamen noch andere Reisende auf den Bahnsteig. Einige hielten den Blick gesenkt. Waren sie beschämt, dass sie zu denjenigen gehörten, die nichts zu befürchten hatten? Oder dass auch sie zu denjenigen gehörten, die nichts taten? Vom milchigen Himmel fielen immer mehr zarte Schneeflocken. So als brächten sie wie jedes Jahr den Frieden auf Erden.“ (S. 307)
Der Plot packt emotional von der ersten Seite, was auch daran liegt, dass die Autorin eigene biografische Bezüge hat. Die Geschichte basiert lose auf den Kassettenaufzeichnungen ihrer eigenen Großmutter. Dabei hat Hennig von Lange sich die künstlerische Freiheit herausgenommen, ihrer Oma die fiktive jüdische Ziehtochter als Gewissensfrage an die Seite zu stellen. Insider erkennen natürlich im Plot, dass es sich bei der wilden 22-jährigen Enkeltochter Isabell, die ihr erstes Kind als Schriftstellerin alleine großziehen möchte, um die Autorin selbst handelt.
„Die karierten Mädchen“ ist aktueller denn je. Denn auch heute muss sich angesichts von Ukrainekrieg, Rechtspopulismus und Klimawandel die Gesellschaft wieder fragen, ob sie dazu bereit ist, persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, um für die eigenen Werte einzustehen. Der Roman ist als Auftakt einer Trilogie geplant, welche bis in die 1960er Jahre hineinreichen soll. Aber auch für sich gesehen funktioniert der Band hervorragend.
Wie hätte ich mich in dieser Situation verhalten? Mit dieser unguten Frage werden LeserInnen im Laufe der Handlung mehrmals konfrontiert. Das ist richtig und wichtig zugleich. Und längst nicht so einfach zu beantworten wie gedacht.
Alexa Hennig von Lange: Die karierten Mädchen.
DuMont Buchverlag, August 2022.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
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