Bewegende Darstellung des Irland-Konflikts der 70er Jahre am Schicksal einer jungen Frau
Beim Lesen solcher Bücher, die sich mit historischen Ereignissen befassen, merkt man die Lücken im eigenen Wissen. Die Irin Louise Kennedy erzählt in ihrem Debütroman von den Geschehnissen und den immensen politischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten in ihrem Land in den siebziger Jahren. Dabei war mir vieles, was sie schildert, zwar oberflächlich bekannt, in dieser Tiefe und Dimension war man sich dieser Dinge aber sicher nicht bewusst.
Dieser Umstand macht die Lektüre des Romans nicht einfach, aber umso wichtiger. Dankenswerterweise gibt es am Ende des Buches ein Glossar der Übersetzenden, welches einige der in der Landessprache verwendeten Begriffe erläutert.
Die junge Cushla arbeitet als Lehrerin in einer Grundschule. Dazu unterstützt sie ihren Bruder, der ein Pub führt, in welchem Cushla abends aushilft, und sie versorgt ihre alkoholabhängige Mutter, mit der sie zusammenlebt. Dabei wird sie stets und ständig mit Animositäten, Gewalttätigkeiten und Unterdrückungen konfrontiert. Denn Cushlas Familie ist katholisch, lebt aber in einem überwiegend von Protestanten bewohnten Stadtteil. Hier kann ein falsches Wort, ein falscher Blick lebensgefährlich sein.
Das erfährt auch der Vater von Davy, einem von Cushlas Schülern. Sie beginnt sich seiner und seiner Familie anzunehmen und bringt sich damit selbst in große Gefahr. Parallel verstrickt sie sich in eine leidenschaftliche Affäre mit dem verheirateten, protestantischen Anwalt Michael. Die sich mir allerdings ein wenig zu plötzlich und zu schnell entwickelte.
Es dauert einige Zeit, in diesen Roman hineinzufinden, sowohl mit den Figuren wie auch mit dem Setting wird man erst nach und nach warm. Louise Kennedy hat einen ganz besonderen, eigenen Schreibstil, lamentiert nicht, klagt nicht an, beschuldigt nicht. Gerade das macht den Roman umso ergreifender, umso beeindruckender, nachhallender.
Zwar erschweren die oft abrupt kommenden, manchmal mitten in einem Absatz stattfindenden Szenenwechsel die Lektüre zusätzlich, zwar sind die Figuren spröde und, insbesondere Gina, Cushlas Mutter, nicht immer liebenswert, doch der Roman fesselt und berührt, verstört und bewegt.
Keine einfache Lektüre, aber sehr empfehlenswert.
Louise Kennedy: Übertretung
aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag, August 2023
Gebundene Ausgabe, 320 Seiten, 25,00 €
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.