Yavuz Ekinci: Die, deren Träume zerbrochen sind

Anstelle des Nachwortes ist unter anderem zu lesen: „Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches ist der Roman in der Türkei noch immer verboten, und Yavuz Ekinci drohen weiterhin 7 Jahre Haft. (S. 157 eBook)

Sein Roman erzählt die fiktionale Geschichte seines Hauses, seines Dorfes und seines Landes. „Es ist die Geschichte von Menschen, die nach ihren Söhnen, Töchtern, Vätern Ausschau halten … Es ist die Geschichte endlosen Wartens.“ (S. 160 eBook)

Die eigentliche Geschichte des Ich-Erzählers Hewal, einem nach Deutschland ausgewanderten Lehrer, beginnt an dem Tag, als sein jüngster Bruder, ohne ein Wort zu sagen oder zu schreiben, verschwindet. An diesem Tag veränderte sich das Leben der Familie und des Erzählers. Das Warten auf ein Lebenszeichen wird zur Marter, weil schon so viele Menschen für ihren Freiheitskampf gestorben sind. Für Hewals Vater muss es natürlich ein Ventil für seine maßlose Wut und den Verlust eines geliebten Menschen geben, jemanden, der für seine Sorgen verantwortlich ist. Wer wäre da nicht besser geeignet, als der älteste Sohn, der aus Feigheit und Angst den Weg in die Berge nicht gegangen ist. Seit diesem Tag fühlt sich Hewal für Yusufs Verschwinden schuldig. Er fühlt sich mitschuldig, weil bereits so viele aus seinem Umfeld gestorben sind. Auch für ihn sind sie gestorben. Genauso wie der Freund, der ihm zur Flucht verhalf.

Als Hewals alter Vater im Sterben liegt, fährt er in die Türkei zurück. Doch in Batman wird er von der Familie an der Haustür abgewiesen. Sie nennen ihn Verräter. Er sei es nicht wert, am Grab des Vaters zu stehen. Als Akt der Wiedergutmachung will Hewal den letzten Wunsch seines Vaters erfüllen. Er begibt sich auf die Suche nach Yusuf, damit der Vater noch einmal seinen Lieblingssohn sehen oder hören kann. Die Irrfahrten durch die Berge treiben den Erzähler an seine Grenzen.

Der Autor Yavuz Ekinci hat seinen Roman über die Suche nach Heilung und Frieden in einer von Angst und Hass zerstörten Familie bereits 2014 veröffentlicht. Am Tag des großen Erdbebens in der Türkei wurde er angezeigt. Er würde den Widerstandskampf verherrlichen. Man kann Yavuz Ekincis fiktiven Roman als Gleichnis betrachten, weil er ihn auf die biblische Geschichte von Josef und seinen Brüdern bezieht. Zur Erinnerung: Josef war Jakobs Liebling und sein jüngster Sohn. Er wurde schön eingekleidet, geliebt und ständig bevorzugt. Irgendwann waren die älteren Brüder so von ihrer Eifersucht und Missgunst zerfressen, dass sie ihm bei einem Hirtengang die Kleider zerrissen und in einen Brunnen warfen. Gewonnen haben sie dadurch nichts, denn der Vater litt und trauerte um seinen Lieblingssohn. Doch das Glück blieb Josef treu. Er wurde gerettet, als Sklave verkauft und wurde in Ägypten ein geachteter Mann.

Mit seiner eindringlichen Sprache nimmt der Autor seine Leserschaft mit auf Hewals Reise, dessen Schuld über mehr als zwei Jahrzehnte niemand vergeben konnte. Weder vergab ihm die Familie seine Angst, noch konnte er sich selbst seine Eifersucht und Angst vor dem Tod verzeihen. Nach wie vor trägt er schwer an der Last, überlebt zu haben. Seinen Weg zur Versöhnung könnte man als das eigentliche Thema betrachten. Denn der politische Hintergrund, warum die türkische Regierung systematisch gegen Kurden vorgeht, bleibt außen vor. Yavuz Ekinci geht es ganz offensichtlich nicht um Aufklärung. Er beschreibt das Leid in den Familien, das jahrelange Warten auf ein Zeichen, ein Bild im Fernsehen, das ihnen den Tod des Ehemannes, der erwachsenen Kinder blutig vor Augen führen könnte. Stellvertretend für viele Angehörige beschreibt er das Gefühl in der ersten Kapitelüberschrift: „In mir wächst eine Wüste.“

Auch heute ist diese Thematik aktuell. Der Kurzroman setzt auf Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, wenn Hewal, der im eisigen Gebirge mit dem Schlimmsten rechnet, uneigennützige Hilfe erfährt.

Yavuz Ekinci: Die, deren Träume zerbrochen sind
Verlag Antje Kunstmann, September 2025
144 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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