Véronique Olmi: Die Ungeduldigen

Die französische Dramatikerin und Schriftstellerin Véronique Olmi (Jahrgang 1962) wurde im südfranzösischen Nizza geboren und lebt in Paris. Ihre Theaterstücke und Romane erhielten mehrere Preise und wurden positiv besprochen. Der Aufbau Verlag veröffentlichte am 14. Februar 2022 Olmis Roman „Die Ungeduldigen“, den Claudia Steinitz ins Deutsche übersetzte.

Aix-en-Provence in den 1970er Jahren: die Familie Malivieri wartet auf die Rückkehr der Tochter Hélène, die am Ende der Sommerferien von Onkel David und Tante Michelle Tavel aus Neuilly nahe der Hauptstadt Paris zurück kommt. Hélène, die mittlere der drei Schwestern Malivieri verbringt, seit sie drei Jahre alt geworden war, jede Ferien in Neuilly. Ihr Vater Bruno ist Lehrer an einer Privatschule, die Mutter Agnès kümmert sich um die Töchter und den Haushalt. Das Leben in Aix en Provence ist einfach, das in Neuilly wohlhabend. Dort hat Hélène ihr eigenes Zimmer und einen Dackel namens Caprice. Agnès’ Schwester Michelle hatte mit David Tavel in die Großbourgeoisie eingeheiratet. Hélènes ältere Schwester Sabine träumt von Paris und von der Schauspielerei. Mariette, die jüngste der Schwestern, leidet unter schwerem Asthma und hustet jede Nacht.

Bruno und Agnès Malivieri sind liebevolle, aber arme Eltern und gläubige Katholiken. Agnès hat keinen Beruf erlernt und Bruno verdient wenig als Lehrer. Sie leidet unter ihren unerfüllten Träumen, und er unter dem Minderwertigkeitskomplex ein Weichling und Versager zu sein. Bruno beharrt auf einer traditionellen und patriarchalischen Rollenverteilung in der Ehe. Einzig Agnès’ Freundin Laurence lebt mit ihrer Tochter Rose ein eher emanzipiertes Leben.

Vor allem Sabine und Hélène streben fort von Provinz und Familie. Beide werden mitgerissen von den Strömungen der Zeit: Sabine mag Simone de Beauvoir, nach ihrem Abitur geht sie nach Paris und wird Schauspielerin. Umwelt-, Natur- und Tierschutz werden für Hélène Lebensthemen, sie raucht ihren ersten Joint und studiert Biologie in Paris. Nur Mariette bleibt bei ihren Eltern in Aix. Sie flüchtet in die Stille und die Musik. „Die Ungeduldigen“ entfliehen dem Leben ihrer Eltern. Vater Bruno versteht die Welt nicht mehr. Abtreibung und Verhütung sind  seiner Meinung nach gegen die Natur. Mutter Agnès beginnt sich zu emanzipieren, sie wird Briefträgerin. Ihre Ehe droht zu zerbrechen, als Agnès Bruno nach einer erneuten Schwangerschaft und der Geburt einer weiteren Tochter belügt.

Und auch Sabine, Hélène und Mariette erleben Höhen und Tiefen bis Anfang der 1980er Jahre Jean Paul Sartre stirbt und François Mitterand Staatschef in Frankreich wird.

Véronique Olmi lässt ihre Leserinnen und Leser in „Die Ungeduldigen“ eintauchen ins Frankreich der Dekade von 1970 bis 1980. Mit der Familie Malivieri erlebe ich als Leserin die Umbrüche dieser Zeit. Dabei sind es die Frauen, allen voran die Töchter, die die Chancen, den Aufbruch für sich nutzen. Sie entfliehen ihren traditionellen Rollen als Mütter und Hausfrauen. Aber sie tragen auch persönlich den Preis der Freiheit. Vater Bruno hingegen weist die höchsten und wehmütigsten Beharrungstendenzen auf. Und erlebt die größten Erschütterungen seiner männlichen und väterlichen Rolle.

Der Roman ist traurig und hoffnungsvoll zugleich. Olmis Figuren sind fein gezeichnet, ihre Konstellation wohldurchdacht. Die inneren und äußeren Geschichten der Familie Malivieri spiegeln das Zeitkolorit. Das traditionelle, katholisch verklemmte Milieu der Eltern, die Auflehnung der Töchter dagegen und ihr Aufbruch in die wilde Zeit der 1970er Jahre ist voller Dramatik. Und für die Elterngeneration beinahe tragisch. Véronique Olmi verknüpft elegant und leicht, jedoch ohne banal zu werden, Familienschicksal mit Zeitgeschichte. Sie webt kontrovers und heftig diskutierte gesellschaftliche und politische Themen dieser Ära wie Feminismus, Homosexualität und Umweltschutz in ihre Geschichte ein. Dabei bleibt Olmis Erzählton unaufgeregt.

Ihre Sprache ist von Beginn an wortgewandt, verständlich und wirkungsvoll: „Hélène kam aus einer anderen Welt. Sie kam mit ihrem Koffer, ihrem neuen roten Regenmantel und dem passenden Regenhut nach Hause. Sie war anders und sie fiel auf. Hélène liebte diesen Regenmantel, das Knistern des gestärkten Stoffes, wenn sie sich hinsetzte, den etwas scharfen und chemischen Geruch, das leuchtende Rot…Sie passte sich an. Sie war elf Jahre alt.“ (S. 7)

Wer würde hier nicht neugierig, weiterlesen wollen?

Und so führt mich Véronique Olmi in das Leben der „Ungeduldigen“, und ich kann nicht anders als ihr zu folgen. Noch einmal entsteht vor meinen Augen das Bild einer Zeit, die bis heute prägend für unsere Gesellschaft ist. Bitte lesen Sie selbst!

Véronique Olmi: Die Ungeduldigen.
Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz.
Aufbau Verlag, Februar 2022.
448 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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