Tyrell Johnson: Wie Wölfe im Winter

Lynns Welt besteht meistenteils aus Schnee, es gibt nur zwei Jahreszeiten: die kalte Jahreszeit und die noch kältere. Seit ungefähr sieben Jahren lebt sie in Yukon, vorher in Eagle, Alaska, und ganz früher in Chicago. Damals gab es noch Internet, Pizza, Kino und den Sommer. Damit ist es vorbei, seit während eines Krieges die Grippe ausgebrochen ist und die meisten Menschen getötet hat. Lynns Familie ist mit wenigen Habseligkeiten rechtzeitig fortgezogen, dorthin, wo die Grippe sich wegen der Kälte und der dünnen Besiedlung weniger rasch ausbreitet als anderswo. Dorthin, wo sie hoffentlich niemand findet. Lynn ahnt nicht, dass sie nicht gefunden werden dürfen. Mittlerweile ist sie Anfang zwanzig und lebt mit Mutter und Bruder, ihrem Onkel und dessen Pflegesohn in selbst gebauten Holzhütten, weitab von jeder Zivilisation. Ihr Dad, zu dem sie ein besonders enges Verhältnis hatte, ist an der Grippe gestorben. Er hat ihr beigebracht, wie man Fallen stellt und mit dem Bogen jagt. Sie hat gelernt, zu beobachten und geduldig auf Beute zu warten.

Die Eintönigkeit ihres Lebens macht Lynn zu schaffen, es gibt keine Aussicht für sie, jemals mehr von der Welt zu sehen als ihre winzige Siedlung und die Hügel, die sie umgeben. Ramsey, der einzige Mensch in ihrer Gemeinschaft, mit dem sie nicht verwandt ist, kommt als Mann für sie nicht in Frage. Ihre Perspektive besteht darin, für immer Tochter einer Mutter zu sein, die sie nicht aus den Augen lässt, und Tag für Tag dasselbe zu tun: überleben. Doch dann taucht ein merkwürdiger Fremder auf, Jax, und in der Folge Menschen, die es auf ihn abgesehen haben und bald auch auf Lynn.

Ich-Erzählerin Lynn hat ihren Dad nie in Frage gestellt, nicht erkennen wollen, was sie und ihre Familie hierher brachte und was ihr Vater damit zu tun hat. Nun setzt sie Erinnerungsfetzen zusammen, verknüpft sie mit dem, was ihr widerfährt und beginnt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Die erste Hälfte des postapokalyptischen Romans hat mich in den Bann gezogen. Ein Schauplatz in Eis und Schnee, ein erschreckend realistisches Szenario, das zum Krieg und zur beinahe vollständigen Vernichtung der Menschheit geführt hat, der Kampf ums nackte Leben, unbarmherzige und dabei wunderschöne Natur, eine spröde Heldin und zugegeben wenige Thriller-Elemente. Die zweite Hälfte ist actionreicher, dafür weniger glaubwürdig für mich. Ich fand Lynns persönliche Entwicklung deutlich spannender, die äußerst fragile Beziehung zu ihrer Mutter, die Sehnsucht nach Liebe, die Fähigkeit, sich mit der Situation abzufinden, ohne ihr Fernweh zu verlieren, das Hinauswachsen über sich selbst. Für eingefleischte Thrillerfans vielleicht ein bisschen viel Coming-of-Age, für mich gerade genug Thriller in einem Entwicklungsroman, eine lesenswerte Mischung.

Tyrell Johnson: Wie Wölfe im Winter.
HarperCollins, Januar 2018.
352 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.

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