Richard Brox: Kein Dach über dem Leben

Einen Ratgeber, wie man über 30 Jahre auf der Straße überleben kann, liefert Richard Brox‘ Biographie nicht direkt. Sie vermittelt eher einen Eindruck, warum jemand das Weite suchte, wenn Schutz versprechende Räume ein Synonym für An- und Übergriffe geworden sind beziehungsweise für das Aussperren von Sinneseindrücken und Leben. In der Freiheit der Straße sah der in der Seele schwer verletzte Richard seinen einzigen, zunächst provisorischen Fluchtweg. Dies wird um so verständlicher, wenn statt einer echten Hilfe nur der Drill für ein funktionsorientiertes Leben auf ihn niederprasselte.

Was der Leser bei der Lektüre erfährt, dürfte in mancher Hinsicht überraschend sein. Denn Richard Brox‘ bewegende Lebensgeschichte erinnert ein wenig an eine moderne Charles Dickens Version. Darüber hinaus vermag er mit einem ansprechenden Schreibstil und zahlreichen Wendungen zu fesseln. Eine dürfte die mit dem Hünen einer berüchtigten Motorradgang sein. Oder 1993 die schicksalträchtige Suche nach Wärme in einem Hamburger Internetcafé: An diesem eiskalten Regentag wollte er sich nur aufwärmen, für 50 Pfennig die Stunde. Weil Aufwärmen nur zusammen mit der Nutzung eines Computers erlaubt war und Richard Brox über keine Computerkenntnisse verfügte, wurde er in einen Nebenraum geschickt. Dort nahmen ihn ein paar Leute vom Chaos Computer Club unter ihre Fittiche. Aus dieser Begegnung heraus entstand sein erster Blog, auf dem er von seinen Erlebnissen als Obdachloser berichtete. Im Laufe der Zeit veränderte er seine Zielrichtung. Er begann Obdachlosenunterkünfte zu bewerten. Sein neuer Blog ohnewohnung-wasnun.blogspot.de entwickelte sich im Laufe einer Dekade zu einem Fundus an Informationen, die anfangs von Gleichgesinnten und später von Reportern genutzt wurde.

»… Ich reiste fast manisch in ganz Deutschland umher, nicht in der Überzeugung, das ich weiterhin so leben wollte wie alle anderen um mich herum, sondern als Chronist, Rechercheur und Helfer für die anderen, zu denen ich nicht mehr wirklich gehörte.« (S. 239)

Und wie es der Zufall so wollte, rutschte er in den Fokus von Günther Wallraff, der Richard Brox für seine nächsten Projekte engagierte und ihn für diese Zeit als Gast aufnahm. Hier erfuhr er, was ein Zuhause sein konnte.

Kein Dach über dem Leben zeigt viel mehr als ein buntes Leben. Sichtbar werden die oft ignorierten Grenzen, dort wo die Würde des einen aufhört und das Leid des anderen beginnt. Deshalb beschreibt diese besondere Biographie im ersten Teil, wie schwer ein Leben ohne Schutz ist. Im zweiten Teil stellt sich der Chronist den Hintergründen seiner traumatischen Erlebnisse und denen seiner Eltern. Ein Happy-End gibt es zum Glück auch, basierend auf der Erkenntnis:

»… Dennoch. Es wird Zeit für mich zu bleiben. …, will … bleiben und nicht mehr fliehen. Nicht auf die Straße und auch sonst nirgendwohin.« (S. 262)

Richard Brox: Kein Dach über dem Leben: Biographie eines Obdachlosen.
rororo, Dezember 2017.
272 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.