Ein autobiografischer Roman, der in experimenteller Form vom Zerfall einer Ehe handelt
Tove Ditlevsen lebte von 1917 bis 1976. In Dänemark zählt sie zu den großen literarischen Stimmen. Ihr letzter Roman „Vilhelms Zimmer“ wird zugleich als „das Buch ihres Lebens“ benannt. Der Roman wurde 1975 veröffentlicht, im Jahr darauf beging sie Suizid.
Die Rezensionen von Tove Ditlevsen vorangegangener „Kopenhagen-Trilogie“ mit den drei Titeln „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ sind ebenfalls auf Schreiblust Leselust zu finden.
Fakten und Fiktionen verschwimmen
„Vilhelms Zimmer“ darf zu großen Teilen als autobiografisch gefärbt betrachtet werden. Die Autorin bedient sich darin einer sehr speziellen literarischen Form. Experimentell verwebt sie Fakten mit Fiktion.
Ihre Protagonistin Lise Mundus ist ihr Alter Ego und beschreibt das Zusammenleben mit ihrem Mann Vilhelm. Vilhelm hat Lise verlassen und lebt mit einer jüngeren Frau zusammen. In seinem Zimmer ist alles so geblieben, wie er es verlassen hat.
Wir lesen von den aus Lises Einsamkeit entspringenden destruktiven, häufig deprimierenden Gedanken nach dieser Trennung. Dabei geht es unter anderem um Selbstbestimmung, Befreiung, den Sohn Tom. Es sind sehr persönliche, aus dem Leben gegriffene Bilder dieser vergangenen, intensiv-fanatischen und zugleich zerstörerischen Ehe von der Dichterin Lise und dem Redakteur Vilhelm. Die Autorin hinterfragt und zerpflückt darin die eigene Seele bis ins Mark.
Die Geschichte einer zerstörerischen Leidenschaft
Die Sätze strotzen vor Dramatik, Leidenschaft, Wahn und Wucht.
Wir lesen von Lise und Vilhelms Zusammenleben in Dialogform. Dazwischen taucht eine auktoriale Ich-Erzählerin samt weiteren Erzählstimmen auf. Lises und Vilhelms Ehe ist in eine Sackgasse voll zerstörerischer Hassliebe abgebogen. Beide brauchen psychologische Unterstützung. In ihrer desolaten Gemütsverfassung schaltet Lise alias Tove eine Zeitungsanzeige in Dänemarks größter Tageszeitung, bei der ihr Mann Chefredakteur ist. Diese Anzeige verfasst sie als Heiratsannonce, in der für alle ersichtlich ist, um wen es sich darin handelt.
Schön zu lesen sind Sätze wie jene, in denen unter anderem die unheimliche Vermieterin Frau Thomson beschrieben wird, als diese gehorsam verschwand „… mit einem schlürfenden Geräusch, als würde sie eine Auster verspeisen“ (E-Book S. 20) oder das Lächeln der Frau Thomson, „… das ihr magermilchblaues Gebiss entblößte …“ (E-Book S. 22).
Ständige Perspektivwechsel mit vielen Gedankensprüngen und Rückblenden, in denen die Figuren theatergleich ihre Gestalt wechseln, machen das Lesen nicht leicht. Dennoch verleiht die plastische Schreibweise mit den Wechseln von Wirklichkeit und Fiktion und den unterschiedlichen Sichtweisen dem Roman eine besondere Gewichtung.
Erwähnenswert ist das sehr aufschlussreiche Nachwort der Übersetzerin Ursel Allenstein, das zum besseren Verständnis des Textes besser als Prolog zu lesen wäre.
Anspruchsvolle Literatur.
Tove Ditlevsen: Vilhelms Zimmer.
Übersetzung aus dem Dänischen: Ursel Allenstein.
Aufbau, November 2024.
22,00 Euro, gebundene Ausgabe, 206 Seiten.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.