Es sollte ein Neubeginn werden.
„Die Leute sagen, man müsse im Jetzt leben, aber das ist unmöglich. Das Jetzt gibt es nicht. Es verschwindet in jeder Sekunde. Immer wenn ich versucht habe, im Jetzt zu sein, hat mich die Vergangenheit eingeholt.“ (S.18)
Das schwedische Ehepaar Daniel und Sonja haben nach persönlichen Rückschlägen beschlossen, nach Tschechien auszuwandern. Das Paar im mittleren Alter sucht im ehemaligen Sudetenland eine Perspektive für ihre Ehe, die letzten Berufsjahre und einen Ausweg aus dem festgefahrenen Leben voller Zweifel und Hader.
Sie beginnen mit umfangreichen Sanierungsarbeiten eines lang leerstehenden Weingutes, das am Fluss in der Nähe eines fiktiven Ortes liegt. Recht bald entdecken sie hinter einer provisorischen Mauer nicht nur den Weinkeller mit altem bömischen Wein sondern auch das dahinter liegende Tunnelsystem aus dem Mittelalter, die weit verzweigt über verschiedene Etagen verlaufen. Und in einer Nische findet Sonja die mumifizierte Leiche eines Jungen, der vermutlich nach 1937 vor Rachefeldzügen und Enteignungen Schutz gesucht hatte.
Die in Malmö geborene Autorin Tove Alsterdal hat nach ihrer erfolgreichen und mit Preisen ausgezeichneten Trilogie Sturmrot, Erdschwarz und Nebelblau einen ungewöhnlichen in sich abgeschlossenen Roman vorgelegt, der Kriegsverbrechen offenlegt. Sie offenbart die Wunden, die auch heute mit großer Präzision in die Zivilbevölkerung eines Kriegsgebietes geschlagen werden.
In ihrem aktuellen Kriminalroman ermittelt dieses Mal eine Privatperson. Sonja scheint auf den ersten Blick eine ganz normale Frau zu sein: verheiratet, erwachsene Kinder und eine Arbeit bei einer Behörde, in der sie Dienstpläne erstellt. Beim zweiten Blick spürt man eine willensstarke, freidenkende Frau. Sie wurde gezeugt, um für ein paar Jahre die Ehe ihrer Eltern zu kitten. Sonja erhielt nach der Geburt den Namen ihrer verstorbenen Schwester, als sollte sie deren Platz einnehmen. Ihren Platz im Leben hat sie trotzdem gefunden.
Tove Alsterdal brilliert mit einem ausgewogenen Erzählstil und einer originellen Geschichte, in der sie aus Sonjas Perspektive so anschaulich über das neue Zuhause erzählt, als sollte man zusammen mit der Erzählerin schnell ein heimisches Gefühl aufbauen. Und dann kommt in den noch ungewohnten Alltag der erste Leichenfund, der von den Problemen und Geheimnissen einer Ehe für eine Weile ablenkt. Und weil man bekanntlich die eigenen Probleme nicht auf Dauer ausblenden kann, spannt die Autorin einen Bogen aus Sonjas Geschichte zu historischen Ereignissen. Der fiktive Ort war einer von unzähligen Nebenschauplätzen, die in den Geschichtsbüchern eventuell mit einer Randbemerkung abgehandelt werden. Die Brutalität des Krieges spiegelt der Ort und seine Bewohner mit Wucht wider. Sonja muss nur genau hinschauen und -hören.
Tove Alsterdals Kriminalroman darf man aus diesem Grund tiefgründig nennen. Sie hat eine gelungene Mischung gefunden, die auf hohem sprachlichen Niveau informativ und kurzweilig zu unterhalten weiß.
Tove Alsterdal: Blinde Tunnel
Aus dem Schwedischen übersetzt von Hanna Granz
Rowohlt, September 2023
352 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.