Was für ein spannungsreiches Buch! Und was für ein Autor der so großartig zu schreiben vermag! – Tim Winton, diesen Namen sollte man sich merken! Kein Wunder, dass er zu den erfolgreichsten Schriftstellern Australiens gehört. Zweimal kam er auf die Shortlist des Man Booker Prize, und viermal erhielt er den Miles Franklin Award, den wichtigsten Literaturpreis Australiens. Seine Werke sind in zwölf Sprachen übersetzt, fast alles wurde für Bühne, Radio oder Film adaptiert.
In „Die Hütte des Schäfers“ steigert sich das Abenteuer, in das der jugendliche Protagonist Jaxie Clackton sich selbst hineinmanövriert, Seite für Seite:
In Jaxies Zuhause herrschen raue Sitten. Seit seine Mutter tot ist, hält ihn dort eigentlich nichts mehr. Jaxie hasst seinen ständig alkoholisierten Vater, von dem er nur Schläge und Schmach erntet. Und weil das jeder in dem kleinen australischen Kaff in dem er wohnt weiß, ergreift Jaxie Hals über Kopf die Flucht, nachdem etwas Unvorhergesehenes passiert ist. Niemand würde ihm, dem jungen Raufbold, glauben, dass er nichts mit dem Unglück das seinen Vater ereilt hat, zu tun hat. Ohne sich weitreichende Gedanken über die Gefahren im Niemandsland und der Ausweglosigkeit seines Fliehens zu machen, bricht er nur mit einem Gewehr, zwei Schachteln Patronen und einer Wasserflasche auf. Niemand darf ihn die nächste Zeit über zu Gesicht bekommen, urteilt Jaxie. Deshalb wählt er einen Weg abseits vom Farmland und vom Highway um zu seiner Cousine Lee zu gelangen, der einzigen Person die ihm etwas bedeutet.
Die unwirtliche Wüstenlandschaft verlangt alles von dem Jungen ab und zehrt an seinen Kräften. Aber immerhin kann er jagen und Tiere schlachten und er kennt von früheren Ausflügen mit dem Vater einige einsame Plätze, wo man kampieren kann. Doch ohne Wasser ist man im Salzland dem Tod geweiht, dessen ist Jaxie sich dann doch bewusst. Der Zufall führt ihn in der Nähe eines Salzsees an eine alte Schäferhütte. Stinkend und zerlumpt wie er ist, nimmt ihn der alte Fintan MacGillis, der dort haust, auf. Der seltsame, unaufhörlich redende Einsiedler Fintan entpuppt sich als ehemaliger Priester, auf dem eine große Schuld lastet (was er getan hat, verschweigt er Jaxie). Anfangs misstrauen sich die Beiden gegenseitig. Aber dann spielt sich in ihrem Zusammenleben eine Routine mit allen erforderlichen Pflichten des Alltags ein. Auch von der Lebenserfahrung des Alten und seiner Sichtweise auf das Leben profitiert Jaxie. Er sieht ein, dass Fintan recht hat und er den dreihundert Kilometer langen Weg zu Lee niemals lebend zu Fuß zurücklegen kann. So bleibt er länger als er eigentlich will. Erst die untrügliche Entdeckung, dass ganz in der Nähe der Hütte Kriminelle ihr Unwesen treiben, ändert die Situation, was Jaxie durch seine Unachtsamkeit selbst auslöst. Dieser Schuld ist er sich mehr als bewusst und in seinen Seelenqualen und der Angst um das Leben des alten Mannes offenbart sich der gute Kern in Jaxies Charakter.
Über den Fortgang und das Ende der Geschichte soll hier nichts verraten werden, lediglich so viel: Jaxie weiß nun zum ersten Mal in seinem Leben was er will und wie es weitergehen soll.
Kaum dass man dieses Buch zu Ende gelesen hat, will man es sofort nochmals von vorn lesen. Mit dem Plauderton Jaxies, der stellenweise von Kraftausdrücken strotzt, arrangiert man sich schnell. – Genau so und nicht anders ist der Junge eine durch und durch stimmige Figur. Durch die verstorbene Mutter und den gewalttätigen Vater fehlt ihm außer Wärme und Halt die nötige Wertevermittlung, was Tim Winton in vielen Szenen zum Ausdruck bringt. Die Rückblenden vervollständigen sein Bild. Tiefgründig ist nicht nur die Psyche seiner Figuren. Ebenso beeindruckend lesen sich die geografischen Schilderungen „dieses steinigen, langsamen, stacheligen, harten Landes…“ (eBook S. 11). Die rote Erde und den Bewuchs mit Himbeerakazien, Mulgagestrüpp, Eukalyptus- und Flammenbäumen lässt Winton detailgenau vor dem inneren Auge aufleben. Fast durchgehend liest man sich atemlos durch den Plot.
Tim Winton: Die Hütte des Schäfers.
Luchterhand Literaturverlag, Juli 2019.
304 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.
Pingback: Tim Winton: Atem | SL Leselust