Schon in frühester Jugend hat der Sanitäter Bruce eigene Grenzerfahrungen gemacht. Als er nun einen toten Jungen vor sich sieht, weiß er gleich, dass es sich keinesfalls um Selbstmord handeln kann. Seine Gedanken schweifen zurück in seine eigene Kindheit und Jugend. Mit dem großen Zeitabstand und seiner jetzigen Lebenserfahrung kennt er nur zu gut die Gefahren, das Überschätzen, das Ausreizen, das Spiel mit dem Tod. War doch die Zeit seines eigenen Heranwachsens ausgefüllt gewesen von einem unstillbarem Hunger und Sehnen, dem ständigen Austesten der Grenzen, dem Hype nach Glück, Tempo, Adrenalin und einem Schaudern vor einer unbestimmten stillen Todessehnsucht.
Damals lebte er mit seinen Eltern in Sawyer, einem öden australischen Kaff, alle nannten ihn Pikelet. Zuerst war da nur die Wette, so lange wie möglich den Atem anhalten zu können. „Beide liebten das Gefühl, ganz leicht im Kopf zu werden und nicht mehr auftauchen zu wollen, die Halluzinationen, die damit einhergehen.“ (eBook S. 4). Dann begeistern Pikelet und Loonie sich fürs Surfen. Immer wagemutiger nehmen die beiden Freunde den Kampf gegen immer gefährlichere Meereswellen auf. Der ersehnte und damit einhergehende Kick bestimmt bald ihr gesamtes Leben. Dabei liefern sich die beiden Jungen immer wieder der nicht berechenbaren Naturgewalt aus. „Ich hing in dem kochenden Nest aus Schaum ganz oben auf ihrer Spitze, aufgehoben in Lärm und Ungläubigkeit, bevor ich in einer Walze aus blendender Gischt nach unten fiel.“ (eBook S. 43). Der Surfer Sando, ein Mann mit undurchsichtigen Absichten, gibt den Jungen wertvolle Hilfestellungen, doch er leitet sie nicht nur an, gleichsam fordert er von den beiden die eigenen Grenzen auszureizen. Dass Sando nicht nur Faszination verströmt sondern dass auch eine Gefahr von ihm ausgeht, ist den Heranwachsenden nicht bewusst. Bruce und Loonie sind gefangen in ihrem Eifer sich gegenseitig zu übertreffen und werden zu Rivalen.Viel zu früh wird so für zwei Jungen, denen Reife, Erfahrung und Weitsicht fehlen, das Spiel um Leben und Tod zur Sucht und letztlich zum Selbstfindungstrip.
Tim Winton kann mehr als schreiben. Er ist ein wahrer Meister im Darstellen atmosphärisch dichter Szenen. Wie auch in seinem bei SL bereits besprochenen Buch „Die Hütte des Schäfers“ zieht der Text direkt ins Geschehen hinein, liest sich atemlos eindringlich, spannend und ergreifend, was letztlich wieder der gelungenen Übersetzung aus dem Australischen von Klaus Berr zu verdanken ist.
Tim Winton: Atem.
btb, Oktober 2019.
320 Seiten, Taschenbuch, 10,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.