Sandro Veronesi: Fluchtwege

fluchtEs gibt einen Unterschied zwischen „vor meinen Augen passiert“ und „mir passiert“. Gleich zu Beginn wirft Sandro Veronesi Überlegungen in den Plot, an denen sein Protagonist auf den folgenden 400 Seiten zu knabbern hat. Wo endet die Unschuld, wo beginnt die Mitschuld? Ist etwas nicht passiert, nur weil keiner danach handelt?

Pietro Paladini zog nach dem Tod seiner Frau vor acht Jahren mit der Tochter von Mailand nach Rom, um dort als Autoverkäufer zu arbeiten – in einer kleinen, überschaubaren Welt. Doch diese liegt innerhalb weniger Stunden in Trümmern: Sein Geschäftspartner hat ihn betrogen und ist untergetaucht, die Behörden und die rumänische Mafia sind ihm auf den Fersen, seine Tochter verschwindet, er verliert Handy, Führerschein, Bargeld und Würde.
In atemlosem Stakkato stolpert Pietro von einer Katastrophe in die nächste und sieht sich zu radikalen Schritten gezwungen, um selbst Teil des „unsichtbaren Italiens“ zu werden, in dem Lügner, Erpresser, Diebe und Halunken unbehelligt ihre Taten ausüben können. Pietros Flucht nach vorne, hin zur Wahrheit, führt zurück in die eigene Vergangenheit. Hier sind Dinge passiert, für die er niemals Verantwortung übernommen hat.

Der in Florenz geborene und in Italien mehrfach ausgezeichnete Autor wirft ein Licht auf die Undurchsichtigkeit seiner Heimat. Die „Bella Figura“ thront über allen Wahrheiten. Was unter der Fassade brodelt, bleibt verborgen, denn der Unsichtbare ist unverwundbar. Lügen sind die bequemsten aller Fluchtwege, um sich weder dem Gesichtsverlust und Versagen noch der Konfrontation zu stellen. Verkörpert durch Geschäftsmänner, die zwischen ehelicher Untreue und geschäftlicher Veruntreuung lustwandeln, Sekretärinnen mit geheimen Neigungen, listige TV-Sternchen, Autokäufer, die sich überschulden, um ein Statement zu setzen, das sie nicht halten können.

Eine „Bella Figura“ macht das Buch auch auf sprachlicher Ebene. Es präsentiert sich pointiert, mit einer sinnlich-schwülen Atmosphäre. So gibt es für Pietro kaum etwas Intimeres, als Zugang zur Privatheit einer Handtasche zu erhalten…

Fazit: Ob Notlügen, alltägliche Schutzmechanismen oder Selbstdarstellungen – Seite um Seite bewegt sich der Leser von „vor meinen Augen passiert“ zu „mir passiert“. Ein Teil des unsichtbaren Italiens steckt schließlich in uns allen.

Sandro Veronesi: Fluchtwege.
Klett-Cotta, März 2016.
413 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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