Sam Lloyd: Der Mädchenwald

„Katastrophe ist ein Wort, das viel hübscher ist als seine Bedeutung, finde ich.“ (S. 52)

Ein Schachgenie wird während der Pause eines Wettkampfes überwältigt, betäubt und entführt. Irgendwann erwacht das Schachgenie in einem Keller im irgendwo. In dem abgeschlossenen Raum ist es stockdunkel, kalt und die im Boden verankerte Kette, an der das Schachgenie mit einer Handschelle verbunden ist, erlaubt nur einen kleinen Bewegungsradius. Das Schachgenie heißt Elissa und ist dreizehn Jahre alt.

Der Brite Sam Lloyd hat mit seinem Thriller eine mitreißende Geschichte vorgelegt, die von Katharina Naumann übersetzt wurde. Sein Sprachstil, die unterschiedlichen Elemente des Grauens und seine Charaktere sind so angelegt, dass man sie ohne weiteres in einem Bestseller von Stephen King vermuten könnte.

Drei Personen erzählen, wie sie Elissas Leid erleben. Zum einen erfährt man von Elissa, wie sie den ersten Schock überwindet und geschickt zu taktieren beginnt. Ihr gegenüber steht unter anderem der altklug wirkende Elijah, der zurückgezogen in der Nähe zu wohnen scheint. Schnell fällt er mit ungewöhnlichen Äußerungen auf. Elijah nennt zum Beispiel den benachbarten Wald Mädchenwald und einen darin befindlichen See Knöchelchensee. Doch in seiner überschaubaren Welt sind nicht nur Zauber, Geister und Märchen sondern auch Unsicherheit und Angst. Als er heimlich die gefangen genommene Elissa aufsucht, könnte er sie nicht nur theoretisch retten.

„Ich denke an meine eigene Familie. Wie die meisten […] leben wir in seliger Verleugnung der Wölfe, die um uns herumstreifen.“ (S. 435)

Die dritte Erzählperspektive beschreibt die Verzweiflung der Kommissarin Mairéad, die schon einmal vergeblich ein entführtes Mädchen gesucht hat. Damals wie heute handelt es sich um die schwierigste Variante einer Entführung und zwar die durch einen Fremden, bei der die üblichen Ermittlungsansätze ins Leere führen. In diesem Fall will Mairéad unbedingt eine lebende Elissa ihrer alleinerziehenden Mutter übergeben.

Bei der Gesamtkomposition handelt es sich um einen kurzweiligen, sehr spannenden aber auch grausamen Pageturner. Die Hoffnung, ein Mädchen könne ihren mordenden Entführer überlisten, ist so präsent, dass die Trostlosigkeit von Elissas Gefangenschaft nicht vollständig die Regie übernimmt.

Sam Lloyd dachte sich schon als kleiner Junge Geschichten über Verstecke in den umliegenden Wäldern aus. Eine von ihnen hat er nun für die Freunde der Spannungsliteratur veröffentlicht. Er schreibt zum Schluss: „Aber am wichtigsten ist mir der von Herzen kommende Dank an Sie, liebe Leser, dafür, dass Sie vom Weg abgewichen und mir ins Unterholz gefolgt sind. Ich hoffe, ich habe Sie sicher wieder zurückgebracht, nicht allzu zerkratzt oder verletzt.“ (S. 445)

Sam Lloyd: Der Mädchenwald.
Rowohlt, Dezember 2020.
448 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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