Nancy Vo: Der Outlaw

Jahrelang wurde ein Ort in der Prärie von einem Fremden heimgesucht. Auch der Zug, der in die Richtung dieses Ortes fuhr, wurde von dem Fremden nicht verschont.

„… Alle kannten ihn durch die Spur seiner Missetaten.“ (Zweiter Satz)

Der fremde Gesetzlose fand sogar seinen Platz in den Redewendungen der Eltern, wenn sie ihren Kindern sagten: Wer nicht artig ist, wird von dem Gesetzlosen geholt.

Und dann, eines Tages, kam der Gesetzlose nicht mehr. Sogar die Spuren seiner Missetaten waren nicht mehr zu sehen. Eigentlich hätte jeder aufatmen können. Das erstarrte Leben hätte sich von der Angst befreien können. Es begann jedoch erst, als ein Fremder erschien und ungefragt Dinge reparierte.

Nancy Vo wuchs in der Prärie, im Wilden Westen der USA, auf. Nach einem Studium in Kunst und Architektur wollte sie Kinderbücher schreiben und illustrieren. Heute arbeitet sie als Städteplanerin in Vancover BC in Kanada.

In ihrem Debüt The Outlaw, übersetzt von Richard Rosenstein, kann man auf jeder Seite die Künstlerin Nancy Vo spüren. Sie gestaltete ihr wundervolles Buch bis ins kleinste Detail aus. Es beginnt mit einer sterbenden Prärie am Fluss. Die Bäume sind grau und kahl. Die Sonne am hellgrauen Himmel ist verschwunden. Als künstlerische Mittel verwendete sie Tusche, Wasserfarben und übertrug in die Landschaft Zeitungsausdrucke aus den 1850er und 1860er Jahren. Die schlechten Nachrichten sind so allgegenwärtig, dass sogar das Land sie verinnerlicht hat.

In dieser einsamen Kargheit fallen eine Krähe und zehn ausgemergelte Kinder besonders ins Auge. Einer aus ihrer Gruppe klaut einer Frau die soeben erworbenen Lebensmittel. Und für das einzige Pferd auf der Hauptstraße des Ortes gibt es keinen Wassertrog mehr, während der einzige Baum mit wenigen Blättern ums Überleben kämpft. In dieser Trostlosigkeit sind viel mehr als nur Reparaturarbeiten zu leisten. Es braucht Mut, das Richtige zu tun, damit alte Wunden heilen können. Und während der Fremde den Heilprozess im Ort in Gang setzt, geschieht etwas Wunderbares. Ein Junge spricht zu den hasserfüllten Erwachsenen, appelliert an das Gute, das gerade passiert.

Kinder leben im Jetzt; sie feiern den Augenblick und leiden im Augenblick. Intuitiv spüren sie, dass Entscheidungen das nächste Jetzt gestalten.

Selten finden sich Kinderbücher, die jeden anrühren. Wer eine gute Geschichte so wundervoll ausgestalten kann, bei der ein auf das Wesentliche reduzierter Text die kunstvolle Ausgestaltung dezent unterstützt, sollte noch sehr, sehr viele Bücher veröffentlichen. Denn Kinder verdienen Wahrheit und Schönheit.

Nancy Vo: Der Outlaw.
Freies Geistesleben, Februar 2020.
44 Seiten, Gebundene Ausgabe, 16,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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