„Die dunkelbraune Masse trat ungefähr auf Höhe Augenbrauen aus den Schädeln aus und hing wie ein Vorhang aus Floralem und Verwesung vor den völlig leeren Augenhöhlen der beiden Toten.“ – Sätze wie diese gehören einfach dazu, wenn man einen Rechtsmedizinthriller von Michael Tsokos liest. Da muss man durch. Das macht’s aber auch authentisch, denn immerhin ist der Autor Rechtsmediziner und weiß also, wovon er schreibt. Insofern sind seine Thriller auch immer so etwas wie ein kleines Lehrbuch der Fachterminologie und Herangehensweise. Wer zuhört, kann einiges lernen.
Die Fälle, die in diesen Thrillern behandelt werden, sind so oder ähnlich auch reell – das macht das Ganze noch ein bisschen spannender. Tsokos versteht es, seine Figuren sympathisch, authentisch und kompetent rüberkommen zu lassen, sei es Prof. Paul Herzfeld, der Chef der Abteilung „Extremdelikte“ beim BKA Berlin oder jetzt eben Dr. Sabine Yao, seine Stellvertreterin, seit dem Ausscheiden von Dr. Fred Abel oder auch die übrigen Mitglieder des Teams. Der eine leicht schrullig, der andere noch jung und unerfahren, die Sekretärin resolut und ehrfurchtgebietend, aber herzensgut und die Seele der Abteilung –alle kompetent und zuverlässig.
Der Fall, mit dem Dr. Sabine Yao es diesmal zu tun hat, ist zunächst gar kein Fall für die „Extremdelikte“. Zunächst ermittelt ein ehemaliger jordanischer Geheimdienstler im Fall des verschwundenen achtjährigen Yasser. Yasser lebt „unter dem Radar“ mit seiner Mutter in einer High-Deck-Siedlung in Neukölln, ohne Aufenthaltsgenehmigung, ohne die Schule zu besuchen, ohne offizielle Existenz. Das macht es seiner Mutter auch so schwer, sich an die Polizei zu wenden, nachdem Yasser verschwunden ist. Hassan Khalaf ist da vertrauenswürdiger, mit ihm reden die Menschen in der Siedlung. Von ihnen erfährt er auch von einem ähnlichen Fall vor viereinhalb Jahren, als schon einmal ein Junge im gleichen Alter plötzlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht ist. Khalaf schafft es, die Mutter zu überreden, doch die Polizei einzuschalten – gibt aber selbst nicht auf. Bald stoßen die Ermittler um Kriminalhauptkommissarin Monica Monti auf eine männliche Leiche in einem Trailer in einer Bauwagensiedlung, umgeben von Kinderkleidung, Spielzeug unterschiedlichster Art, Fetischen. Monti bezieht Dr. Yao in die Ermittlungen der neu gebildeten Soko mit ein. Sabine Yao kann mit ihren Überlegungen und Erkenntnissen wesentlich zu weiteren Ermittlungserfolgen beitragen und letztlich auch zur Aufklärung der verschiedenen Fälle, in die der Tote verwickelt war.
Auch wenn Sabine Yao, was den konkreten Fall in diesem Thriller angeht, erst so in der Hälfte des Buches gefordert wird, sind wir doch von Anfang an in ihre tägliche Arbeit eingebunden und profitieren, was Erklärungen angeht, diesmal davon, dass sie eine Praktikantin hat, die sehr an der Forensik interessiert ist und der sie jeden Schritt und Gedanken erläutert.
Wieder ein spannender Rechtsmedizinthriller, packend geschrieben, gut erklärt, dennoch fehlt mir ein bisschen die Spannung von der ersten Seite an.
Michael Tsokos: Mit kaltem Kalkül
Knaur; September 2024
368 Seiten; Paperback; 16,99 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.