So haben Sie Märchen noch nie gelesen: sexy, abgrundtief böse, nachdenklich stimmend, menschlich absurd und unfassbar komisch! Michael Cunningham erzählt die Vorgeschichten der Protagonisten und das, was nach dem vermeintlichen Happy End passiert. Er nimmt die Perspektive von Hexen und Kinderräubern ein, ruft Verständnis für all jene Underdogs hervor, die bislang in den eindimensional konzipierten Plots zu kurz kamen. Es ist schon fast ein Sakrileg, mit welchem Chuzpe er sich über das literarische Kulturgut von Generationen hermacht! Der Autor bringt Farbe in die Schwarz-Weiß-Malerei von Gut und Böse. Ein Genuss für Märchenliebhaber und Märchenhasser gleichermaßen.
Märchen wurden nicht für Kinder geschrieben, was mittlerweile bekannt sein dürfte. Den sexuellen Hintergrund der Gute-Nacht-Geschichten haben Bücher wie „Die Wolfsfrau“ hinlänglich geklärt. Dass im wahren Leben die Rollen oft vertauscht lagen – sprich emanzipierte Bäckerinnen, denen ein Geschwisterpaar nach Ruhm und Rezepten trachtete, kurzerhand zur bösen Hexe umfunktioniert wurden – davon zeugen historische Quellen.
Micheal Cunningham beschreibt seine Märchen hingegen so selbstverständlich, als würde er über die Eheprobleme von Bekannten schreiben. Er hinterfragt den Mythos von Liebe, lässt das Sexuelle betont einfließen, stellt Rollenbilder auf den Kopf.
Schneewittchens Prinz frönt seit jener denkwürdigen Wiedererweckung einem Sargfetisch. Die umtriebige Hexe will nach drei gescheiterten Ehen nur ein paar Jünglinge in die Kunst der Liebe einweisen, landet aber nicht im Bett, sondern im Ofen. Die neue Königin verspürt keine Lust, ihre zwölf egomanen Stiefsöhne durch die Pubertät zu begleiten. Sie ist nicht so dumm wie ihre Vorgängerin, welche durch die pausenlosen Schwangerschaften dahingerafft wurde. Folglich verwandelt sie die Knabenschar in Schwäne und verbannt sie des Hofes. Mal ehrlich, wer könnte ihr daraus einen Vorwurf machen?
Michael Cunningham scheut sich nicht, die vermeintlichen Helden zu entthronen. Hans wird als tumber Vertreter der Generation „Castingshow“ dargestellt, der einfach mal kopflos die Bohnenranke hochklettert. Welcher Teufel hat eigentlich die Müllerstochter geritten, um ausgerechnet den König zu heiraten, der sie kurz zuvor noch hinrichten wollte? Kein Wunder, dass Rumpelstilzchen ihrem Erstgeborenen ein Aufwachsen in diesem gestörten Familienhaushalt ersparen möchte! Märchenprinzen gibt es bei Cunningham ohnehin keine, das Biest im Manne kommt oft erst in Gestalt des schönen Thronanwärters zum Vorschein.
Daneben beherrscht der Autor auch die Kunst der leisen Töne, wie bei Rapunzel, die ihrem blinden Prinzen zuliebe das abgeschnittene Haar am Leben erhält. Dennoch begeistern vor allem die Geschichten, in denen er gehörig vom Leder zieht. Eine Erklärung liefert das geniale Vorwort „Ent.Zaubern“. Hier betont Cunningham, dass die „mittelmäßige Maid“ und der Normalo nichts zu befürchten hätten. Böse Banne und verhängnisvolle Wünsche ereilten nur die gottgleichen Schönheiten, die Mutanten an Perfektion, Güte und Reinheit. „Solange wenigstens ein paar Makellose gedemütigt, entstellt oder in rotglühende Eisenschuhe gesteckt werden, leben wir andere in einer weniger beschwerlichen Welt, einer Welt der erfüllbaren Ansprüche.“ Wer würde nicht gerne einmal den Spitzensportler samt seiner Topmodel-Freundin mit einem bösen Bann belegen?!
In Romanen wie seinem vielfach prämierten Meisterwerk „Die Stunden“ hat der Pulitzerpreisträger Michael Cunningham gezeigt, dass er die große Literatur beherrscht. Nur ein echter Könner vermag am Grimm’schen Gedankengut Hand anzulegen und es derart modern und anarchisch auszuformulieren. Die zehn Märchen aus „Ein wilder Schwan“ machen ihrem Titel alle Ehre: Sie sind schön, ungestüm, hemmungslos, hochintelligent und amüsant zugleich. Definitiv nichts fürs Kinder, aber ein Muss für jeden erwachsenen Literaturliebhaber!
Michael Cunningham: Ein wilder Schwan.
Luchterhand Literaturverlag, November 2017.
160 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
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