Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat

Als Zoli ein kleiner Junge war, fiel er bei einer Fahrt mit dem Vater vom Motorrad. Irgendwann bemerkte dieser den Verlust des Sohnes. Es verging weitere kostbare Zeit, bis er ihn im Straßengraben liegend wiederfand. Noch immer nahm der Vater die Situation nicht ernst. Erst als Passanten ihn von der Schwere der Kopfverletzung überzeugen konnten, bekam Zoli ärztliche Hilfe.

Zoli ist nun anders als die Nachbarjungen. Er stottert, ihm fließt der Rotz aus der Nase und seine Ordnung der Dinge folgt der Natur, den Jahreszeiten. Was er liebt, schätzen seine Eltern gering. Er soll ein richtiger Mann werden, einer der saufen kann, sich für Frauen interessiert und vor allen Dingen die Eltern aus der Armut rettet.

Aber Zoli funktioniert anders. Zoli ist Zoli. Sein Garten, die Blumen und sein Hund Tango stehen im Mittelpunkt seines Lebens. Auch seine Freundin Anna aus Kindheitstagen, die er Hanna nennt.

Der Krieg in Jugoslawien zerstört Zolis Mittelpunkt. Er wird zu einem Soldaten getrimmt, einer der duckt, spurt und den Kopf wie eine Schildkröte einzieht. Nur ein richtiger Mann im Sinne seiner Mutter, ein Soldat, wird er nicht. Nach einem Jahr des Drills in einer rauen Männergesellschaft ist Zoli ein Anderer: „… Ich bin ich ohne Zoli A-M-E-N …“ (S. 150)

Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in Serbien geboren und zog mit ihrer Familie Anfang der Siebziger in die Schweiz. Ihr einzigartiger Schreibstil und die darin innewohnende Rhythmik zeigen, wie harmonisch die Autorin und Musikerin eine Sprachmelodie kreiert. Bei der Lektüre entstehen sofort charakterstarke, assoziative Bilder, die beim Leser Mitgefühl und Verständnis für einen Menschen wecken, der am Rand der Gemeinschaft für sein persönliches Reich brennt. Die großen philosophischen Fragen: „… Wem gehören wir? Dem Staat? Gott? Den Eltern? Uns selbst? Dem Tod?“ (S. 173) hat Melinda Nadj Abonji in ein sprachliches Kunstwerk verwandelt.

Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat.
Suhrkamp, November 2018.
173 Seiten, Taschenbuch, 11,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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