Martina Borger: Wir holen alles nach

Endlich geht es aufwärts: Die alleinerziehende Sina hat einen Job in einer Münchner Werbeagentur und sich jahrelang zwischen Karriere, Kind und dem Überleben in der Großstadt aufgerieben. Nun hat Sina mit Torsten einen Partner gefunden, der sie unterstützt und sich liebevoll um ihren achtjährigen Sohn Elvis kümmert. Mit Ellen, einer pensionierten Buchhändlerin, tritt ein weiterer Glücksfall in Sinas Leben. Sie sorgt nicht nur als Nachhilfelehrerin dafür, dass sich die Noten des schüchternen Jungen verbessern. Ellen springt auch ein, als Elvis leiblicher Vater ihn in den Ferien versetzt und Sina nicht weiß, wo sie ihren Sohn in den letzten beiden Ferienwochen unterbringen soll.

Bei Ellen blüht der introvertierte, sensible Elvis sichtbar auf. Zumal Ellen einen Hund hat, den Elvis abgöttisch liebt. Wünscht er sich doch selber seit Jahren einen eigenen Vierbeiner. Sina schwankt zwischen Glück und Eifersucht, da sie merkt, dass Ellen und Elvis Erlebnisse miteinander teilen, die eigentlich ihr als Mutter vorbehalten sein sollten. Sie hat so viele wichtige Momente im Leben ihres Sohnes verpasst. Doch das lässt sich ja nachholen – oder auch nicht?

Plötzlich gerät das fragile Familienkonstrukt ins Wanken. Schuld daran sind die blauen Flecken auf Elvis Körper, die Ellen entdeckt. Hat er sich verletzt, als er am Wochenende mit seinem Stiefvater zelten war? Steckt etwas anderes dahinter? Etwas, das seine Introvertiertheit erklären könnte? In Ellen keimt ein schrecklicher Verdacht. Als sie diesen in einem unüberlegten Moment äußert, tritt sie eine Kettenreaktion an Ereignissen in Gang.

Denn dieser Vorfall legt die Risse des fragilen Familienkonstrukts bloß. Eigentlich wohnt Sina in einer Wohnung, die über ihre Verhältnisse geht. An Torsten nagen die monatelange Arbeitslosigkeit und seine Scheidungskonflikte. Um Elvis Unterbringung zu sichern, muss sich Sina mit Eltern arrangieren, die sie eigentlich gar nicht leiden kann. Und über alledem das ständig schlechte Gewissen, ihrem Sohn nicht gerecht werden zu können. Ist er deshalb so anders, als alle anderen Kinder?

Martina Borger zeichnet ein sehr zutreffendes Bild vom (Über-) Leben als junge Mutter in Hippster-Metropolen wie München. Der horrende Mietspiegel, der Druck sich als Instagram konforme Mutter zu inszenieren, der Wettkampf unter den Helikoptereltern. Daneben setzt sie aber auch wunderschöne Momente, die direkt aus dem Alltag entspringen. Die Natur- und Tierwelt wirkt als Gegenpol zur stressigen Stadt- und Businesswelt. Bei Streicheleinheiten mit Hund und Katz, beim Spaziergang durch den Englischen Garten, in der Morgendämmerung samt Vogelgezwitscher … hier können die Protagonisten aufatmen, zu Kräften kommen, auch ein Stück weit zu sich selbst finden. Selbst der Humor kommt nicht zu kurz, zum Beispiel durch altkluge Beobachtungen des jungen Elvis, der manchmal mehr wahrzunehmen scheint, als so mancher Erwachsene.

Letztendlich führt der Vorfall dazu, dass generelle Werte und Lebensentwürfe infrage gestellt werden. Ist die schicke Wohnung wirklich wichtig? Muss das Kind unbedingt aufs Gymnasium, um später mithalten zu können? Was nutzen einem all die virtuellen Netzwerkkontakte, wenn man vor realen Problemen steht? Wer hilft dann wirklich?

Fazit: Ein Roman auf der Höhe der Zeit, der die alltäglichen Herausforderungen alleinerziehender Mütter in Großstadtmetropolen aufzeigt und gleichzeitig in Frage aufwirft, was wir wirklich zum Glücklichsein benötigen. Fragen, mit denen wir momentan wohl alle konfrontiert werden. Letztendlich ist dieses Buch auch ein „Ja“ zum Leben in seiner Hülle und Fülle, die wir manchmal kaum noch wahrnehmen. Denn das Glück ist im Hier und Jetzt. Es lässt sich nicht immer nachholen.

Martina Borger: Wir holen alles nach.
Diogenes, März 2020.
304 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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