Dirk Kurbjuweit: Haarmann

Nach dem gewaltsamen Tod seiner Mutter bei einem Schusswechsel französischer Soldaten macht sich der Bochumer Kommissar Lahnstein unbeliebt. Er fragt so beharrlich bei den Besatzern nach dem Verantwortlichen, dass er sich letztendlich nur durch eine Versetzung in Sicherheit bringen kann.

In Hannover wird zur gleichen Zeit in einer festgefahrenen Ermittlung ein neuer leitender Kommissar gebraucht. Für den politisch motivierten Polizeichef kommt Bochums bester Ermittler wie gerufen. Für die anstehenden Wahlen braucht er in der Presse positive Nachrichten. Denn die stetig wachsende Zahl von vermissten Jugendlichen und jungen Männern hat nicht nur bei den trauernden Eltern, sondern auch in der Bevölkerung für Unmut gesorgt.

Allmählich findet Lahnstein heraus, dass sowohl die Zeugen aus der Schwulenszene als auch seine Kollegen mehr verschweigen, als sie sagen. Mit seiner Beharrlichkeit macht er sich deshalb auch in Hannover unbeliebt. Und wer im Fokus steht, den kann man systematisch zum Sündenbock stilisieren. Viel zu schnell steht Lahnsteins Ermittlungsarbeit, seine Person und weitere Vermisste in der öffentlichen Kritik.

Der Reporter und Autor Dirk Kurbjuweit bearbeitet in seinem Kriminalroman den berühmten Fall um den Massenmörder Haarmann, über den schon einige geschrieben haben. Der Film Der Totmacher mit Götz George dürfte manchem noch in Erinnerung sein. Dirk Kurbjuweit setzt diesen Fall in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext. In einem trüben Dickicht aus Schweigen und Korruption sucht der fast fiktive Lahnstein einen Massenmörder.

Lahnstein hat durch den Ersten Weltkrieg seine Familie und seinen inneren Halt verloren. Wie ihm geht es vielen Heimkehrern, die unter körperlicher und seelischer Versehrtheit leiden. Mit dem Töten aufzuhören und ein normales Leben aufzubauen, gehört zum neuen Alltag, während in der Politik Kaisertreue, Demokraten, Sozialisten, Kommunisten und nationalistische Propaganda miteinander um Wählerstimmen konkurrieren. Wer wird in Deutschland regieren? 1918 haben die Frauen ihr Wahlrecht bekommen, und gleichzeitig werden sie aus dem Arbeitsleben gedrängt. Die Goldenen Zwanziger stehen vor der Tür, den Menschen geht es langsam besser, und die moderne Frau legt das Korsett ab. Vieles soll sich ändern. Auch für Lahnstein, den ein Journalist auf die alten und neuen Verhörmethoden anspricht. Darf man einen mutmaßlichen Massenmörder mit Folter zu einem Geständnis zwingen, um der Gerechtigkeit nachzuhelfen? Lahnstein läuft die Zeit davon. Insgesamt hat er nur vier Tage, um dem beharrlich leugnenden Haarmann ein Geständnis zu entlocken. Ansonsten würde der Haftrichter die Entlassung des Verdächtigen veranlassen. Haarmanns Umfeld erschwert in jeder Hinsicht einen Ermittlungserfolg. Denn der § 175 erklärt Homosexuelle zu Straftätern. Wer würde schon freiwillig aussagen, um dann selbst verurteilt zu werden? Und welcher Polizist vergisst seinen Hass auf das „Abnormale“, wenn von ihm die Suche nach verschwundenen Puppenjungen verlangt wird? Haarmanns Einstellung geht in eine ähnliche Richtung, wenn er einräumt, die Opfer seien ja nur Puppenjungen.

Dirk Kurbjuweit gelingt ein packender, psychologisch dichter Kriminalroman.

Dirk Kurbjuweit: Haarmann.
Penguin, Februar 2020.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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