Christina Clemm: AktenEinsicht: Geschichten von Frauen und Gewalt

Wenn Frauen Gewalt erfahren, dann steckt dahinter häufig eine Geschichte: eine biografische Geschichte, in der Gewalterfahrung zum Alltag gehört, eine Beziehungsgeschichte, in der ein Lebenspartner Frau und Kinder massiv schikaniert, oder es kann auch eine kulturelle Geschichte sein, in der Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile zu einer Akzeptanz von Gewalt führt.

Die Rechtsanwältin und Autorin Christina Clemm schreibt in ihrem Epilog: „Vielleicht sind es die Ignoranz und die Apathie großer Teile der Gesellschaft, die mich im Laufe der Jahre wütender werden lassen. Es gibt keinen Ort, keine Schicht, kein Alter, keine soziale Situation, in der Frauen keine Gewalt erleben …“ (S. 193) Den Nährboden für den allumfassenden Machtmissbrauch darf man in patriarchalen Gesellschaftssystemen sehen, in denen mehrheitlich Männer mehr Geld und Einfluss, höhere Positionen im Beruf, in der Politik, bei den Behörden und der Polizei innehaben.

Die Autorin lässt den Leser an ihrem berufsbedingten Einblick in geschlechtsspezifische Gewalt teilhaben. In neun Fallbeispielen stellt sie Gewalterfahrungen und die dazugehörige Rechtslage vor. Hierbei fällt auf, dass auf Seiten des Gesetzes und ihrer Vertreter das Ungleichgewicht zwischen dem Stärkeren und Schwächeren gefördert wird. Prinzipiell wird der Frau ihre Glaubwürdigkeit abgesprochen, und wenn sie nicht als Nebenklägerin auftritt, befindet sie sich im Status einer Sache. Darüber hinaus wird ihr bei der Beweisaufnahme weiterer Schaden zugefügt. Denn traumatisierte Frauen werden im Zeugenstand systematisch von der anwaltlichen Vertretung der Beklagten angegriffen. Während Beklagte das Recht auf Schweigen genießen, werden Zeuginnen mit Fragen aus ihrem höchst privaten Bereich gequält,. Das Rechtssystem verlangt, dass dem Beklagten seine Schuld nachgewiesen werden muss. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung. Ein Beklagter darf lügen und betrügen, um seine Beweislage zu verbessern.

Mit welchen Mitteln und rechtlichen Tricks Frauen vor Gericht erneut angegriffen werden und dies straffrei, kann dem Leser den Atem rauben. Eines von vielen Beispielen zeigt einen mit dem Messer zustechenden Beklagten. Sein Verteidiger behauptet, sein Mandant habe aus einem Akt der Notwehr heraus auf den Rücken der Klägerin eingestochen. Wer in einem solchen Fall glaubwürdige Zeugen an seiner Seite hat, kann sich glücklich schätzen. Weniger glücklich sind die unfairen Umstände. Es bekommt nicht der Mensch Recht, der es verdient, sondern wer es vor Gericht besser erschwindelt.

Christina Clemms intensives Buch rüttelt auf, auch dann, wenn der Leser an die eigene offene Wahrnehmung geglaubt hat. AktenEinsicht sensibilisiert und beweist: Die Qualität einer Gesellschaft wird daran gemessen, wie gut oder schlecht es den Schwächsten geht.

Christina Clemm: AktenEinsicht: Geschichten von Frauen und Gewalt.
Verlag Antje Kunstmann, März 2020.
300 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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