Ein Novum der Geschichte: Auf Haiti fand die einzige erfolgreiche Sklavenrevolution der Welt statt. Diese führte zur Gründung des ersten unabhängigen Karibikstaates. Dieser Roman erzählt, wie es zwischen 1791 und 1804 dazu kam, dass sich die französische Kolonie Saint-Domingue zur souveränen schwarzen Republik Haiti entwickelt hat, in der Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe dieselben Bürgerrechte erhielten. Dies zu einer Zeit, als die Flotten der Meere Sklaven aus Afrika in alle Welt verschifften. Marie Vieux-Chauvet erzählt von den besonderen Umständen, die dazu geführt haben, aber auch von dem Leid und den vielen Opfern, die dieser Befreiungsschlag gefordert hat. Absolut faszinierend und mitreißend!
Die vielfach ausgezeichnete Autorin stellt starke, zum Großteil historisch verbürgte Frauenfiguren in den Mittelpunkt Ihres Romans. Allen voran die berühmte Opernsängern Minette und ihre Schwester Lise. Die Besonderheit liegt in ihrer Herkunft. Als „Affranchis“ bzw. Mulatten (freigelassene ehemalige Sklaven gemischtrassiger Abstammung) betreten sie auf den Theaterbühne von Port-au-Prince eine Welt, die Schwarzen bislang verwehrt blieb. Doch diese Privilegien sind mit ständigen Kämpfen verbunden. Anerkennung, Gage und Respekt muss sich Minette hart erkämpfen. Die Abwertung, die Minette erfährt ist subtiler, aber deshalb nicht weniger brutal. Sie darf auf der Bühne singen, aber den Ballsaal der Weißen nicht betreten. Die Presse zerreißt sie regelmäßig und warnt vor den Folgen, wenn „diese Kreaturen“ weitere Ansprüche stellen sollten.
Blutiger Sklavenaufstand auf Haiti
Nachdem Minettes Mutter Jasmine ihr einmal ihren vernarbten Rücken gezeigt hat – Spuren all der Misshandlungen, die sie als ehemalige Sklavin erdulden musste, wird Minette immer politischer. Sie arbeitet für Weiße, die andere Farbige ausbeuten. Ein Dilemma. Doch sie weiß, dass ihr eine Art Vorreiterfunktion erfüllt, die dabei helfen kann, Klassenunterschiede aufzulösen.
Während Lise davon träumt, als Sängerin reich zu werden, um sich schöne Dinge leisten zu können, träumt Minette davon, als Sängerin reich zu werden, um alle Sklaven freikaufen zu dürfen. Ihr ehemaliger Hauslehrer Joseph und Freunde der Sklavenbewegung unterstützen Minette in Ihren politischen Ansichten.
Denn auf Saint-Domingue brodelt es überall unter dem Vulkan des fragilen gesellschaftlichen Konstrukts der Machthaber. In drastischen Szenen beschreibt die Autorin Leid und Unterdrückung der Sklaven. Herausgeschnittene Zungen, amputierte Gliedmaßen, Tod durch stundenlanges Rädern – keine Foltermethode scheint zu grausam. Der Antrieb liegt vor allem in der Angst. Denn160.000 Sklaven und 12.000 freigelassene Farbige stehen einer Minderheit von 14.000 Weißen im Westen der Insel gegenüber. So versuchen die Machthaber die zahlenmäßig überlegenen Schwarzen durch Gewaltausübung in Schach zu halten. Wenn aus den Bergen Voodoo-Musik ertönt, wird das Unbehagen der Weißen umso größer. Denn hier versammeln sich die entlaufenen Sklaven, um den Aufstand zu proben. Nicht selten nehmen sie eine ebenso grausame Rache an ihren ehemaligen Peinigern, brennen Plantagen ab und metzeln ganze Familien nieder.
Rassismus kennt viele Gesichter
Die Autorin, die selbst unter Präsident François Duvalier in die USA ins Exil gehen musste, beschreibt die Vielschichtigkeit des Rassismus. Mulatten oder Affranchis beuten ihrerseits schwarze Sklaven aus, um sich einen gewissen Reichtum zu sichern. Die verarmte weiße Unterschicht neidet den Mulatten ihren Reichtum, die Oberschicht der weißen Pflanzer fühlt sich von den Sklaven bedroht, gleichzeitig will man sich als Kolonie von Frankreich lossagen, erst recht nach der französischen Revolution. Unselige Allianzen zwischen Rebellen und Militär und Verbrechen auf beiden Seiten sorgen dafür, dass die wechselvolle Geschichte des Rassismus auf Haiti bis heute nachhallt. Besonders schön verdeutlicht Vieux-Chauvet diesen Konflikt in Form des wohlhabenden Mulatten und Plantagenbesitzers Lapointe, in den sich Minette verliebt. Sie kann es nicht begreifen, wie er einerseits die Weißen hasst, seinerseits aber selbst schwarze Sklaven auspeitschen lässt.
Mitreißender Roman, viele historische Anmerkungen
Frauen lernen, den Aufstand auf leise Art zu proben. Nachdem die weiße Regierung den Affranchis das Tragen von Schuhen untersagt hat, schmücken sie ihre Füße einfach mit herrlichen Juwelen, was sie umso bezaubernder wirken lässt im Gegensatz zu den steifen, blassen Europäerinnen. Dies ruft Begehrlichkeiten der weißen Männer und unverhohlenen Hass bei deren Frauen hervor. „Die Vermischung so unterschiedlichen Blutes hatte in ihnen wahre Wunder an Schönheit hervorgebracht. Und das wiederum war von der Natur selbst unverzeihlich.“ (S.8)
Ein sehr ausführliches Verzeichnis mit Anmerkungen ermöglicht es bei Bedarf, tiefer in die historische Materie einzutauchen, da hier historische Personen, geschichtliche Hintergründe oder Musikstücke näher beleuchtet werden. Insbesondere auf die Rolle der Frau in der Kaste der „gens de colour“ verweist das ebenso informative Nachwort von Kaiama L. Glover
Marie Vieux-Chauvet zeichnet ein vielschichtiges, faszinierendes, brodelndes Bild eines Landes im Ausnahmezustand. Sie konzentriert sich auf die Zeit vor der Revolution und nimmt sich die künstlerische Freiheit heraus, die eigentlich Revolution, die sich über Jahre erstreckte, zeitlich zu verdichten. Ihre Betrachtungen zu Rassismus, Sexismus und Kolonialismus sind dabei so universell wie zeitlos. Dieses Buch berührt und erschüttert zugleich. Ein wahres Happy End sucht man vergebens. Gerade deshalb bleibt diese Prosa unvergesslich.
Marie Vieux-Chauvet: Der Tanz auf dem Vulkan.
Aus dem Französischen übersetzt on Nathalie Lemmens.
Manesse, Mai 2023.
496 Seiten, Gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.