Ein beschwingter Krimi voller schillernder Charaktere im London der 20er Jahre! Mit eleganten Spitzen und gewitzter Fabulierkunst entführt die „Costa Novel Award“-Preisträgerin in die Roaring Twenties vom Glanz bis zur Gosse. Das Besondere: Eine Frauenfigur (die auf einer realen Person basiert!) hält hier das Zepter der Unterwelt fest in der Hand. Sie ist die Königin der Nachtclubs in Soho, deren Leitung sie auf ihre sechs Kinder verteilen möchte. Diese eignen sich mal mehr, mal weniger, mal gar nicht für die Aufgabe. Noch dazu, wo korrupte Polizisten, Diebe und Gläubiger darauf warten, ihr Imperium zu stürzen.
Wer denkt, dass erst seit Social Media merkwürdige Trends kursieren, sei hier eines Besseren belehrt. Die „Bright Young Things“ waren damals VorreiterInnen in Sachen Motto- und Fetischpartys. Ein großartiger Pageturner mit britischen Schwarzen Humor.
Weibliche „Peaky Blinders“-Version
Nellie Coker ist eine Londoner Legende. Ihr gehören diverse Nachtclubs, wo sich die vergnügungssüchtige Meute der Großstadt tummelt – Adlige, Politiker, Starlets, Glückssucher und gescheiterte Tänzerinnen. Kate Atkinson entwirft einen weiblichen „Peaky Blinders“-Plot mit viel und Homor. Reiche Männer bezahlen für „Privattänze“ mit jungen Mädchen, andere verkleiden sich auf Mottopartys und geben sich dem Drogenrausch, der Spielsucht oder anderen Lastern hin. Als Nellie unter großen Jubel samt Medienhype aus dem Gefängnis entlassen wird, muss sie überlegen, wie sie ihr Imperium gegen Bedrohungen von außen schützen kann.
Da ist der neue Sergeant Frobisher, ein aufrechter Mann mit depressiver Ehefrau, der alles daran setzt, ihre Clubs zu schließen. Da ist der korrupte Polizist Maddox, der sie einst zu schützen vorgab, doch nun ein doppeltes Spiel zu treiben scheint. Und da ist der zwielichtige Azzopardi, der mit Nellie noch eine alte Rechnung offen hat und nun ihre Familie bedroht. Mit ebendieser hat Nellie schon genug Probleme. Ihr Sohn Ramsay möchte lieber Schriftsteller werden, Nesthäkchen Kitty hegt keinerlei Ambitionen, ihre sonst so zuverlässige Tochter Edith verliebt sich in den Falschen, ebenso wie ihr ältester Sohn Niven, dem es die toughe Gwendolen angetan hat, offenbar ein Spitzel der Polizei. Die Gesetzeshüter sind dauerpräsent, weil in Soho neuerdings junge Mädchen verschwinden, die wenig später tot aus der Themse gezogen werden. Wer steckt dahinter?
Eine dieser Mädchen begleitet Kate Atkinson durch ihren Plot. Freda, 14 Jahre alt, träumt von einer Karriere als Tänzerin. Gemeinsamen mit ihrer Freundin Florence büxt sie aus dem beschaulichen York nach London aus. Allerdings bedeutet hier Bühnenstar zu werden für die allermeisten Mädchen als Nachtclubtänzerin oder gar als Prostituierte zu enden. Doch Kate Atkinson hat großen Gefallen an ihren Figuren, vor allem ihren Frauenfiguren. Die lassen sich nicht unterkriegen. Die wollen nicht nur irische Hausfrau, Bibliothekarin oder Stieftochter sein. Sie haben Ambitionen! Ob Nellie, die toughe Gewendolen als spontane Spionin oder die hübsche, blutjunge Freda – sie alle finden ihren Weg, sich zu behaupten!
Ironischer Wortwitz, geschliffene Dialoge
Atkinsons Liebe zu ihren fein ausgearbeiteten Figuren ist ihr auf jeder Seite anzumerken. Dabei sprüht ihre Prosa trotz manch finsterem Ableben auf jeder Seite vor Esprit. Knochentrockene Kommentare und ironische Spitzen wechseln sich ab. Sie schafft es, ihre Hauptfiguren sympathisch zu halten, selbst wenn diese straucheln, betrügen und lügen, was das Zeug hält. Genüsslich lotet sie die Zeitenwende aus, wenn die moderne Gwendolen vor ihrer Vermieterin damit kokettiert, dass sie jeden Abend ein anderer Mann mit einem Wagen abholt (auch wenn diese Verbindungen zu ihrem Leidwesen nur geschäftlich sind!). Noch dazu hat Atkinson eine der witzigsten Schießereien der Literaturgeschichte zu Papier gebracht, mitten im Nachtclub des „Amethyst“, Nellies Vorzeigeclub. „Die Kapelle, unbeeindruckt von was immer im Club geschah, spielte jetzt ‚Runnin Wild‘ in einem beunruhigend hektischen Tempo, das den Aufruhr nur noch steigerte. Möglicherweise war das Absicht. (…) der Amethyst war vieles, aber er war nichts, wenn nicht getanzt wurde. Die Kapelle war eine mannhafte Truppe, die fröhlich mit dem Schiff untergehen würde. Später wurde entdeckt, dass eine Kugel eine Furche durch das Klavier auf dem Podium gezogen hatte, doch der Pianist hatte seinen Posten nicht verlassen.“
London schillert und swingt! Sie lieben die Roaring Twenties und britischen schwarzen Humor? Dann haben Sie einen neuen Literaturliebling gefunden. Und so wahnwitzig der Plot auch ist, am außergewöhnlichsten ist wohl, dass die reale Figur hinter Nellie Coker – Kate Meyrick – tatsächlich gelebt hat. Ein Gute-Laune-Krimi vom Feinsten.
Kate Atkinson: Nacht über Soho.
Aus dem Englischen von Anette Grube.
DuMont, Mai 2025.
528 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.