England, 1984: Zehn Jahre nach den erschreckend bösartigen und kongenial erzählten Vorkommnissen des Romans „Jeder Tag ist Muttertag“ lässt Autorin Hilary Mantel ihre Protagonisten weiter agieren. Vor allem Muriel, die jahrelang zurückgezogen in einem unheimlichen Geisterhaus lebte, hat nach dem Tod ihrer Mutter und ihres Babys eine erstaunliche Verwandlung zurückgelegt. Das scheinbar zurückgebliebene Mädchen entpuppt sich als unglaublich gerissen. Muriel hat eine Vision: Sie will diejenigen bestrafen, denen sie die Schuld an den dramatischen Vorkommnissen gibt: ihren Nachbarn, den Sydneys, und ihrer damaligen Sozialarbeiterin Isabel Fields.
Der metaphysisch angehauchte Wahnsinn des Erstlings klingt in diesem Nachfolger nur noch leise an. Für realen Alltagshorror sorgen die weltlichen Probleme der Protagonisten. Nach außen hin scheint alles perfekt, doch hinter den Fassaden der Herrenhäuser bröckelt der Putz gewaltig. Die älteste Tochter der Sydneys wird von einem verheirateten Mann geschwängert, der Sohn gerät auf kriminelle Abwege, der Vater trauert seine Affäre hinterher, die Mutter liebäugelt mit dem Pfarrer. Beim Ehepaar Fields steht es nicht besser: Isabel ist dem Alkohol verfallen und hat sich nie von den damaligen Ereignissen erholt. Beide Familien haben zudem die Last elterlicher Pflegefälle zu tragen.
Den Finger in die Wunden legt Muriel, die sich nach jahrelangem Aufenthalt in der Psychatrie zur Verwandlungskünstlerin gemausert hat. Als Putzfrau verkleidet, schleicht sie sich bei den Sydneys ein, als Pflegekraft ins Altenheim von Isabel Fields‘ Vater. Schicksalhafte Verstrickungen und angezettelte Intrigen lassen den Plot auf eine große Katastrophe zusteuern. „Wahnvorstellungen wurden wie Tische und Stühle vererbt, schäbige Möbel aus geleerten Gehirnen.“
Der wohl größte Verdienst der zweifachen Booker Prize Trägerin Hilary Mantel ist es, dass sie diese Katastrophen so schrecklich-komisch serviert, dass man sich einerseits vor Lachen den Bauch hält, während einem die Gänsehaut über den Rücken kriecht. Mal ist ihr Humor subtil, mal messerscharf. Die Pointen treffen stets ins Schwarze und wirken dabei nie bemüht. Bereits die Eröffnungsszene am Frühstückstisch der Sydneys entfacht ein wahres Gagfeuerwerk. Colin Sydney hat das Gefühl, von seinen vier Kindern aufgefressen zu werden – nervlich wie finanziell: „… verlangten immer mehr, für Neonfarben und Handschellen und all den anderen Kram, den man auf einem Acid-Raine-Konzert trug. Vielleicht hingen sie sogar an der Nadel. Mehr kosten konnte es auch nicht.“
Für den schwarzen Humor einer Hilary Mantel müsste die Farbskala erweitert werden.
Dieses Wahnsinnsbuch zeigt: Gemeines kann so gut und geistreich sein!
Hilary Mantel: Im Vollbesitz des eigenen Wahns.
Dumont, August 2016.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.