Hernan Diaz: Treue

Im Mai 2023 erhielt Hernan Diaz für seinen Roman „Trust“ (Originaltitel) den Pulitzer Preis in der Kategorie Literatur. Diaz wurde 1973 in Argentinien geboren. Aktuell lebt und arbeitet er in New York City (USA). Hanser Berlin aus dem Carl Hanser Verlag veröffentlichte den Roman unter dem deutschen Titel „Treue“ in einer Übersetzung von Hannes Meyer am 25. Juli 2022.

Schon die Verpackung, die die Postbotin im Briefkasten hinterlegt, lässt aufmerken: Die vier Seiten des Paketkartons entsprechen aufgeklappt den Überschriften der vier Kapitel des Romans. So entpuppt sich der Roman als Schachtel mit vier Geschichten, die Hernan Diaz elegant in Beziehung setzt. Da ist zunächst der Roman von Harold Vanner „Verpflichtungen“ über den New Yorker Finanzmogul Benjamin Rask und seine Frau Helen, die in den 1920er Jahren zu den einflußreichsten Menschen in der Finanzwelt gehörten. Sie häuften unermesslichen Reichtum an. Rask spekulierte an der Börse und Helen widmete sich der Wohltätigkeit, sie förderte Künstlerinnen und Künstler. Vanner schreibt die fiktive Geschichte eines sehr erfolgreichen Ehepaares, bis Helen ernsthaft psychisch erkrankt und unter Mithilfe ihres Ehemannes in der Schweiz zu Tode therapiert wird.

In der zweiten Geschichte des Romans tritt Andrew Bevel auf. Er will mit seiner Autobiografie „Mein Leben“ den Schilderungen Vanners entgegen treten. Bevel fühlt sich durch Vanners Roman in Misskredit und um sein Lebenswerk gebracht. Dieser Teil von Hernan Diaz’ Roman besteht aus Überlegungen, Notizen und kurzen Fragmenten zu Bevels Memoiren. Vor allem missfällt Bevel die Darstellung und das Schicksal der Ehefrau in Vanners Roman, er möchte sich und seine Ehefrau Mildred rehabilitieren.

Dazu beschäftigt er, und das ist nun die dritte Geschichte, die Ghostwriterin Ida Partenza. Aus ihrer Perspektive erzählt Diaz die Lebensgeschichte des Ehepaares Bevel ein drittes Mal. Vor allem die Rolle von Mildred interessiert Ida, allerdings möchte Andrew Bevel vor allem seine Verdienste um sein Firmenimperium und um die Finanzwelt dargestellt wissen. Die angestrebte Autobiografie wird nie veröffentlicht. Jahre später entdeckt Ida Mildreds Tagebücher im Nachlass der Bevels und kommt zu überraschenden Erkenntnissen.

Die vierte und letzte Geschichte in „Treue“ sind die Notizen aus Mildred Bevels Tagebüchern. Unter der Überschrift „Vereinbarungen“ erfahren die Lesenden nun die Sicht der weiblichen Hauptfigur, nicht ohne sich über diese Sicht der Wirklichkeit verwundert die Augen zu reiben.

Da ist Hernan Diaz ein Glanzstück der Literatur gelungen. Finde ich mich als Lesende zunächst in einer klassischen Romanerzählung wieder, so wird diese von einem autobiografischen Entwurf aus Aufzählungen und Stichpunkten, dann von journalistisch redigierten Memoiren abgelöst, um mit losen Tagebucheinträgen zu enden. Und Hernan Diaz beherrscht das Handwerkszeug des Schreibens jeder dieser Stile. Anfangs dreht sich in „Treue“ alles um Männer, Macht und Geld. Diaz setzt seine Figuren ins  turbulente Amerika nach dem 1. Weltkrieg, und jongliert mit den Fakten zum weltweiten Börsencrash vom Oktober 1929. Im Deutschen bedeutet der Originaltitel des Buches „Trust“ Vertrauen, Treuhand, Zuversicht bzw. in der Wirtschaft den Zusammenschluss mehrerer Unternehmen unter einem Firmendach. Der deutsche Titel „Treue“ spiegelt diese doppelte Bedeutung nicht oder nur unzureichend und wird damit auch der erzählten Geschichte oder besser gesagt den Geschichten nicht ganz gerecht.

Diaz spielt mit den Geschlechterrollen im Roman (starke, kluge, mutige und entschlossene Männer – schwache, liebe, wohltätige und angepasste Frauen) und mit der Wirklichkeit (wer deutet etwas wie?):

„Alle warfen mit Spielgeld um sich. Selbst Frauen wagten sich an den Markt!…Zu Beginn des Jahrzehnts stellten Frauen nur 1,5 Prozent der dilettantischen Teilnehmer. Gegen Ende waren es beinahe 40 Prozent. Hätte es einen klareren Indikator für die bevorstehende Katastrophe geben können? Der Abstieg von der kollektiven Illusion in die Hysterie war nur eine Frage der Zeit. Ich war mir meiner Pflicht bewußt, zu tun, was in meiner Kraft lag, um die Lage zu richten.“ (S. 192)

Hernan Diaz hat einen komplexen amerikanischen Roman geschrieben, der sich vor den Augen der Lesenden nach und nach entfaltet (wie die Pappschachtel, in der das Buch geliefert wurde) und eine fulminante Wende erfährt, sobald die Geschichte aus der weiblichen Perspektive erzählt wird und nichts mehr so scheint, wie zuvor gelesen. Aber bitte, lesen Sie selbst!

Hernan Diaz: Treue.
Aus dem Englischen von Hannes Meyer.
Hanser Berlin, 25. Juli 2022.
416 Seiten, Gebunden, 27,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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Ein Kommentar zu “Hernan Diaz: Treue

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