Louis XIV, gemeinhin als Sonnenkönig bekannt, hat 1715 etwas gewagt, was vor ihm kein Mensch je wagte – mittels eines alchemistisch-magischen Rituals hat er sich unsterblich gemacht – und wurde zum ersten, der Vampyre. Viele weitere Adelige, Königshäuser in der ganzen Welt folgten ihm in die Transmutation. Seitdem lebt der Adel noch prächtiger, noch prunkvoller, der vierte Stand, die normalen Menschen haben eine zusätzliche Steuer – einen Blutzehnt – abzugeben. Eine Eiszeit im wortwörtlichen Sinn hat sich über Europa gesenkt.
Während in Versailles, dem Herrschersitz, der Hof der Finsternis regiert, der Adel jede Nacht zur Jagd auf das gefangen und ausgesetzte Wild, die Menschen ruft, darben die Bürgerlichen.
Jeanne wächst weitab von Ludwig, dem Unwandelbaren in der Provinz als Tochter des örtlichen Apothekers auf. Sie ahnt nicht, dass ihre Eltern und Brüder sich dem Widerstand angeschlossen haben. Erst als im 299. Jahr der Finsternis ein Inquisitor unterstützt von Dragonern an die Eingangstür pocht, beginnt sie zu ahnen, dass ihre Familie weit mehr gegen die Magna Vampyra und den Codex Mortalis verstoßen hat, als je vermutet. Hilflos muss sie mit ansehen, wie ihre Familie ermordet wird. Kurzerhand schlüpft sie, um Rache zu suchen, in die Rolle der von ihr gemeuchelten Adeligen, Diane de Gastefriche. Als königliches Mündel wird sie an der elitären Schule des Großen Marstalls aufgenommen, findet dort einige wenige Freunde, Verbündete, viele Neider, unversöhnliche Feinde und ihre erste Liebe.
Es geht um Rache
All dies aber ist für sie nebensächlich – ihr geht es einzig um Rache – Vendetta an dem Vampir, der hinter der Hinrichtung ihrer Familie steckt, zu nehmen und, ja auch Rache an dem ersten und obersten Vampir, Louis dem Unwandelbaren.
Doch um auch nur eine Chance zu haben, diesem nahezukommen muss sie den Schluck des Königs gewinnen und zur Reiterin des Monarchen aufsteigen – allen Widerständen und Wahrscheinlichkeiten zum Trotz …
Ein weiterer Vampirroman – dieses Mal allerdings aus der Feder eines französischen Autors, liegt vor mir. Gleichzeitig der Beginn einer Trilogie, ein Band, dem der Verlag mit illustriertem Schnitt, Spotlackierung und Marketing-Aktionen Aufmerksamkeit verschaffen will.
Inhaltlich erwartet uns ein etwas anders, als das sonst so gewohnte Bild. Der Roman, und damit wohl auch die kleine Reihe, orientiert sich atmosphärisch und von seinem Ansatz her mehr an den klassischen Epen einer Anne Rice (Lestat), einer Elizabeth Kostove (Der Historiker) oder in neuerer Zeit Jay Kristoffs (Das Reich der Vampire). Also keine lasziven Vampir-Beaus, die ihre meist betörend hübschen Opfer erotisch zu umgarnen wissen, sondern stattdessen eine dunkle Welt, die unter dem Joch der bisherigen Herrschaft, die nun auf unabsehbare Dauer ausgedehnt wurde, stöhnt.
Ein übermütiges Mädchen
Mitten in dieser gefühlskalten und witterrungsmäßig vereisten Welt begegnet uns eine junge Frau vom Land. Ein Mädchen, ein Wildfang, übermütig, ungezähmt, die bislang in den Wäldern, illegal versteht sich, geräubert hat, die besser mit der Schleuder als mit der Sticknadel umzugehen weiß. Ausgerechnet sie entkommt der Heimsuchung ihrer Familie, die sie, wohl wissend um ihr impulsives Naturell, nie in die Geheimnisse um die Verstrickung in die Rebellion eingeweiht hat.
Danach hilft der Kollege Zufall, wie ein wenig oft im Roman, ihr und dem Verfasser und bringt sie, allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, an den Hof der Finsternis. Trotz ihrer Herkunft als Frau vom Lande steigt sie in der Welt der jungen Adeligen auf und tritt schließlich im Duell um die Ehre, einen Schluck des unsterblichen Blutes zu bekommen, an.
Dixen hat sich dabei, neben der scheinbar unvermeidlichen Love-Story, eine interessante Geschichte einfallen lassen. Wir bekommen einen intimen Einblick in das Leben, die Intrigen und Bündnisse am Königshof, in die Denkweise der adeligen Vampyre, aber auch in die Ressentiments dieser gegen alles Neue, Unbekannte oder Anrüchige.
Resentiments gegenüber anders Denkenden
Gleichgeschlechtliche Beziehungen etwa sind verpönt und werden drastisch bestraft, Ressentiments gegenüber anders Denkenden, Fremden und anderen Hautfarben werden gelebt, schlimmer fast noch, die alltägliche Diskriminierung derer, die nicht auf der Sonnenseite, eher Nachtseite wandeln, wird in jeder Handlung sichtbar. Wer, um das Überleben der eigenen Familie, die im Dienst der Adeligen in Not geraten ist, ein Stück Brot stiehlt, wird etwa zum Blutgeben eines Viertels des im Körper befindlichen Lebenssafts verdonnert – mit entsprechenden, tödlichen Folgen für die Täterin / Opfer. Diese Alltäglichkeit der gedankenlosen Grausamkeit, der Zynismus, der hier zutage tritt, haben mich schockiert, gerade weil sie so gut vorstellbar sind.
Allerdings fehlt es dem Roman an innerer Glaubwürdigkeit. Viele Plot-Holes werden mit Info-Dumps gefüllt, ich erwähnte es bereits, der Zufall muss unserer Protagonistin und dem Autor immer wieder zu Hilfe eilen. Anleihen etwa bei Victor Hugos Glöckner werden ebenso bemüht, wie Motive, die an Alexandre Dumas erinnern. Gut gelöst dann, das große Finale, das uns überrascht und dennoch erstaunlich nachvollziehbar bleibt. Hier hat Dixen nicht nur den Auftaktroman passend abgeschlossen, sondern auch die Weiterführung im Mittelband der Trilogie vorbereitet.
Victor Dixen: Der Hof der Finsternis
aus dem Französischen übersetzt von Bernd Stratthaus
Blanvalet, Juni 2023
495 Seiten, Paperback, Euro 18,00
Diese Rezension wurde verfasst von Carsten Kuhr.