Helene Bracht: Das Lieben danach

Dieses Buchcover ist ein Eyecatcher und könnte nicht besser zum Inhalt passen. Die üppig gefüllten Blütendolden muten überquellend und prall an; gleichzeitig wirken sie durch die zarte Farbstimmung besonders verletzlich.

Der Text erzählt von Missbrauch, Vertrauensbruch, kindlichem Seelenchaos, den Grenzen und den Folgen.

Die Autorin erinnert sich in ihrem siebzigsten Lebensalter an verschüttete Erfahrungen aus ihrer Kindheit. Als praktizierende Psychologin kann sie das, was ihr in der Vergangenheit widerfahren ist, nun nicht nur durch den großen Abstand zu den Vorfällen, sondern vor allem mit ihrem professionellen Verständnis bewerten.

Im Urlaubshotel auf den Kanaren arbeitet sie am Text zu diesem Buch und gesteht freimütig, dass sie sich längst mit ihrem Alleinsein arrangiert hat. Auch, dass ihre Attraktivität jetzt im etwas betagteren Alter mehr und mehr dahinschwindet, empfindet sie keineswegs als Manko. Nein, mittlerweile betrachtet sie es eher als Freiheit, anderen nicht mehr gefallen zu wollen/müssen. Aus dieser Position kann sie sich der Geschichte, die sie erzählen will, ohne Vorbehalte annähern. 

Am Anfang beleuchtet sie die Beziehung ihrer Eltern zueinander, vor allem die Rolle ihrer Mutter und deren „eheliche Pflicht“.

Ihr einstiger Peiniger, ein Mittfünfziger, war eine vertraute Person der Eltern gewesen. So konnte er sich der kleinen Lene ungehindert während des Nachhilfeunterrichts und der gemeinsamen Urlaube nähern. Alles muss so sein, dachte das Mädchen. Es wusste und kannte es nicht anders. Ein Geheimnis mit einem Freund der Eltern zu hüten, empfand sie als etwas Besonderes, zumal ihr Peiniger dies auch stets betonte. Sie, das introvertierte Kind, das kaum sprach, sich nie mitteilte, das in der Schule keine Noten wegen fehlender mündlicher Beiträge bekam, war das ideale Opfer für einen Pädophilen.

Als der Missbrauch den Eltern schließlich doch auffiel, waren diese nicht in der Lage, dem Mädchen zu helfen und ließen es allein in ihrer Verwirrtheit. Mehr noch, sie verfielen in Schweigen, straften das Mädchen zusätzlich, indem sie die Rolle der Beschämten einnahmen.

Im weiteren Verlauf legt die Autorin dar, wie sie sich in ihren Jugendjahren weiterentwickelte und wie sich ihre späteren Beziehungen ausgestalteten. Sie beleuchtet, in welcher Weise sie sich in den Jahren veränderte und wie es um ihre Gefühlswelt stand.

Vertrauen, Lügen, häusliche Gewalt, Übergriffe, Scham, me too, sind nur einige Kapitel, die sie unter psychologischen Gesichtspunkten analysiert.

Helene Bracht legt ihre Missbrauchserfahrung ohne Tabus offen und gewährt tiefe Einblicke in das kindliche Gemüt. In ihren Offenbarungen kehrt sie ihr Inneres nach außen. Die Leser werden so nicht nur zu Mitwissern, sondern stellen unweigerlich ihre eigenen Betrachtungsweisen an.

Helene Bracht: Das Lieben danach
Hanser, Februar 2025
192 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..