Heike Specht kann also auch Roman! Wie in ihren bisherigen Büchern auch geht es auch hier um die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Diesmal allerdings handelt es sich nicht um real existierende Persönlichkeiten der näheren und ferneren Vergangenheit, die sie porträtiert, sondern es geht in ihrem ersten Roman um eine fiktive Frau, die für das steht, was vor 50 Jahren noch fast undenkbar war! Eine Frau macht Karriere in der Politik! Und das nicht nur als Abgeordnete im Bundestag, das gab es durchaus, wenn auch nicht in bedeutender Anzahl, 1978 waren es 38 bei insgesamt 518 Abgeordneten. Zum Vergleich: heute sind es 204 Frauen bei 630 Abgeordneten insgesamt.
Von den ersten Seiten an, hat man den Eindruck, die Autorin hätte die Zeit damals „live und in Farbe“ miterlebt und berichte für eine renommierte Zeitung oder einen Sender aus der Zeit. So authentisch, realistisch, süffisant und doch knallhart kann eigentlich nur jemand schreiben, der die Zeit erlebt hat. Aber dazu ist die Autorin viel zu jung. Dennoch fühlt man sich von Anfang an mittendrin im „Bundesdorf“ Bonn mit seinen politischen Intrigen, Kleinkriegen, Hinterzimmermauscheleien und dem Kneipengemauschel.
Catharina Cornelius, liberale Abgeordnete, bekannt für ihren Fleiß, ihre Gründlichkeit und ihr Wissen darum, als Frau immer besser sein zu müssen als die beteiligten Männer, wird von einem Parteifreund und Freund, mit dem sie auch privat verkehrt, wie auch mit seiner charmanten, weltgewandten, intelligenten Ehefrau, eines Abends dringend zu ihm nach Hause eingeladen.
Der amtierende Außenminister und Vizekanzler steckt in großen Schwierigkeiten, seine Frau hat ihn verlassen und damit einen Skandal heraufbeschworen, der ihm keine andere Wahl lässt, als zurückzutreten. Von jetzt auf gleich. Catharina scheint die geeignete Nachfolgerin. Zur Überraschung vieler übernimmt Catharina das Amt mit all seinen Herausforderungen und rettet damit zunächst einmal die Koalition, die ansonsten auseinandergebrochen wäre. Das kann nicht lange gut gehen, munkelt man in den Männerzirkeln, hofft gleichzeitig, dass sie an der Aufgabe nicht wachsen, sondern scheitern wird. Dessen ist Catharina sich durchaus bewusst und willens, das Gegenteil zu beweisen. Dank der Unterstützung anderer weiblicher Abgeordneter und Mitarbeiter, dank ihrer Freundin Suzanne, die als Journalistin in Bonn tätig ist und Catharina schon seit ihrer Schulzeit in einem Schweizer Internat eng verbunden ist, stellt sie sich jeden Tag aufs Neue neuen Intrigen und Herausforderungen. Sie ist immer bestens vorbereitet, meistert auch unvorhergesehene Ereignisse mit Charme und Weltgewandtheit, verschafft sich bald auch in Brüssel unter lauter männlichen Kollegen einen beachtlichen Respekt und scheut keine Auseinandersetzung.
Ihre Amtszeit als Außenministerin fällt unter anderem zusammen mit den politischen Umwälzungen im Iran, der Sturz des Schahs, die Revolution fordern ihre diplomatischen Fähigkeiten. Belasten sie aber auch persönlich, da eine weitere enge Freundin aus Internatszeiten unmittelbar vor Ort involviert ist. Azadeh ist eine iranisch-stämmige Dokumentarfilmerin, die es sich nicht verbieten lässt, trotz der akuten Bedrohung nach Hause zu reisen und die Geschehnisse festzuhalten. Es kommt zu keinem Zeitpunkt Langeweile beim Lesen auf. Die vielen Perspektiven, aus denen wir hier die politische Arbeit, den Alltag erleben, machen es abwechslungsreich und geben einen guten Einblick in die Möglichkeiten, die Frauen damals hatten, im politischen Betrieb Fuß zu fassen.
Stellenweise amüsant, immer authentisch, mit spitzer Feder geschrieben und oft süffisant, bekommen wir hier einen sehr realistischen Einblick in den Politikbetrieb. Der Unterschied zwischen 1978 und heute ist in manchen Dingen wahrscheinlich gar nicht so groß, auch wenn das 50 Jahre her ist.
Heike Specht: Die Frau der Stunde
Droemer, Oktober 2025
352 Seiten, Hardcover, 22,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.
