Unaufgeregt und sachlich, wie wir das bereits aus seinen anderen kleinen Bänden kennen, schafft es von Schirach auch hier wieder, den Leser mitzunehmen in eine scheinbar andere Welt. Fast meint man, in einem der typischen tiefen cognacfarbenen oder rotbraunen Ledersessel einer Hotelbar oder -lobby zu versinken und der warmen, sonoren Stimme eines Erzählers zu lauschen, der von Begebenheiten, Ereignissen oder Anekdoten berichtet, die wir uns so kaum vorstellen können.
Sei es Massimo, der einen eigentlich ganz unspektakulären alltäglichen Moment seinen „stillen Freund“ nennt oder Cynthia, die sich in Mateo verliebt, der sie vielleicht zunächst vergöttert, aber -dennoch misshandelt und quält, bis sie ihn verlässt, um später mit dem wesentlich älteren Nicco glücklich zu werden. Nicco, der sie beschützen will, für den sie das Kostbarste und Wichtigste in seinem Leben ist, und der – mit der Macht und den Möglichkeiten einer seit Jahrhunderten einflussreichen Familie in Rom – in oder mit Cynthias Vergangenheit „aufräumt“.
Er hat die Macht, das nötige Kapital und die erforderlichen Mittel und Beziehungen, Mateos Existenz zu zerstören, ihn „bezahlen“ zu lassen, für das, was er Cynthia angetan hat. Es geht um sexuelle Belästigung, um Kindesmissbrauch, um Konsequenzen ärztlicher Fehleinschätzungen – um aktuelle, brisante Themen und doch meint man, das alles sei „weit weg“. Man muss einfach dranbleiben, weiterlesen und -lauschen, zuhören trifft es nicht wirklich. Fesselnd und faszinierend. Unaufgeregt und einfühlsam. Lektüre für einen „Nachmittag“.
Ferdinand von Schirach: Der stille Freund
Luchterhand Literaturverlag, August 2025
176 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.