Bei der Lektüre dieses Romans war ich oft zwischen Lachen und Weinen hin und her gerissen. Und habe mir die Frage gestellt, wie ein Buch so schön sein kann, wenn man gleichzeitig nicht einmal die Hälfte von dem versteht, was geschieht?
Die mit Mann und Kaninchen auf Long Island lebende Autorin erzählt in ihrem sensiblen und trotzdem hochspannenden Roman die Geschichte von Nedda. Diese ist im Hauptstrang, der im Jahr 1986 spielt, 11 Jahre alt und lebt zusammen mit ihren Eltern in Florida in unmittelbarer Nähe zur Startrampe der NASA-Weltraumraketen. Die Handlung setzt ein am Tag des Challenger-Unglücks, für Nedda, die von allem, was mit Weltraum und Astronauten zu tun hat, begeistert ist, ein geradezu traumatisches Erlebnis. Zusammen mit ihrem Freund Denny versucht sie, damit klarzukommen, es zu verarbeiten.
Neddas Vater Theo, ein versponnener Wissenschaftler und ehemaliger NASA-Mitarbeiter, der seine Tochter abgöttisch liebt, tüftelt an einer Art Zeitmaschine, die helfen soll, Neddas Kindheit zu konservieren, sie länger zu bewahren. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich Neddas Mutter Betheen vor allem mit Backen, ersinnt und erprobt ständig neue Rezepte. Dabei war auch sie einmal Wissenschaftlerin, nach Theos Worten sogar die bessere von ihnen beiden. Diese Tatsache wird von entscheidender Bedeutung, als die Katastrophe geschieht und Theos Versuch mit seiner Maschine grausam missglückt. Die ganze Stadt gerät in große Gefahr und einzig Nedda und ihre Mutter können sie retten. Das Zusammenspiel mit ihrer Mutter ist für Nedda, die immer ein Vater-Kind war, zuerst sehr schwierig, auch weil sie erst jetzt erfährt, dass sie einmal einen Bruder hatte.
In einem parallel erzählten Handlungsstrang ist Nedda längst erwachsen und zusammen mit anderen Astronauten an Bord der „Chawla“ auf dem Weg zu einem weit entfernten Planeten, den sie besiedeln sollen. Hier erlebt die Leserin Nedda bei der Verarbeitung ihrer Kindheitserlebnisse, auch dieser Teil des Romans ist spannend und komplex.
Es ist faszinierend, wie es der Autorin gelingt, die Perspektive der 11-jährigen Nedda durchgängig einzuhalten, dabei weder kindlich-naiv noch altklug zu wirken. Erika Swyler fasst die Gedanken und Gefühle des Kindes behutsam und sensibel in zarte und gefühlvolle Worte, ohne kitschig zu werden. Die geradezu philosophischen Gespräche zwischen Nedda und ihrem Freund Denny sind berührend, lassen die Leserin schmunzeln und zugleich nachdenklich werden. Noch mehr zu Herzen gehen die Unterhaltungen zwischen Nedda und ihrem vergötterten Vater. In diesen langen Gesprächen, in denen es um wenig anderes geht als um komplizierte wissenschaftliche Fragen, spürt man die tiefe Liebe zwischen den beiden, ohne dass es plakativ zum Ausdruck gebracht wird. Diese warmherzigen Bilder, die die Autorin so gekonnt zeichnet, die vielschichtigen Figuren, das wird mir im Gedächtnis bleiben.
„Sie kannte (ihren Vater), wie man den Duft von Schokoladenkeksen im Ofen kannte oder die Fasern einer Lieblingsdecke, in die man seine Füße kuschelt.“ (S.382)
Es dauert eine ganze Weile, bis in diesem Roman etwas Gravierendes geschieht, bis die Handlung wirklich Fahrt aufnimmt. Durch viele, oft nahtlos beginnende und endende Rückblicke verliert man schon mal den Faden und muss zurückblättern. Die vielen technischen Details und Beschreibungen, all die komplizierten Dinge, die Betheen und Nedda tun müssen, um die Stadt zu retten und die Vorgänge auf der „Chawla“ erfordern reichlich Geduld und waren für mich kaum verständlich. All das aber trübt nicht das große Vergnügen bei der Lektüre dieses Romans.
Erika Swyler: Der Tag, an dem mein Vater die Zeit anhielt.
Limes, Februar 2021.
448 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.