Dror Mishani: Die Möglichkeit eines Verbrechens

Inspektor Avi Abraham kommt im Roman „Die Möglichkeit eines Verbrechens“ von Dror Mishani aus einem langen Urlaub zurück. In Brüssel hat er sich verliebt und den unglücklich verlaufenden letzten Fall verarbeitet, bei dem die Leiche des verschwundenen Jungen nicht mehr gefunden werden konnte. Kaum ist er zu Hause, sind die Gedanken zum vergangenen Fall wieder präsent, ohne dass Avi etwas dagegen unternehmen kann.

Sein neuer Chef und der von der Kollegin verfasste Bericht über Avis Ermittlungsfehler führen dem Urlaubsheimkehrer vor Augen, dass sein Ruf mindestens einen Kratzer bekommen hat. Seine Kollegin weist ihn darauf hin, eine schnelle Klärung des aktuellen Falles sei für ihn hilfreich, damit niemand mehr über die Vergangenheit spricht.

Wie so oft ist auch der neue Fall mehr, als der erste Augenschein vermuten lässt. Er beginnt mit der Bombenattrappe in der Nähe eines Kindergartens und Drohanrufen, die von der Kindergartenleiterin geleugnet werden.

Traue niemandem!

Avi setzt bei der Ermittlung seinen neuen Glaubenssatz ein: Traue niemandem! So nach und nach erkennt er, dass nicht nur die Kindergartenleiterin ausgiebig gelogen hat, auch Zeugen lügen und die Möglichkeit eines weiteren Verbrechens erkennt nur Avi. Um seine Reputation nicht zu gefährden, setzt er alles auf eine Karte.

Der Israeli Dror Mishani ist sowohl Schriftsteller als auch Literaturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geschichte der Kriminalliteratur. Wer seine Romane liest, erfährt viel über die Arbeit der israelischen Polizei und insbesondere über den erfahrenen Inspektor Avi Abraham. Während der berühmte Sherlock Holmes seine Ermittlungen mit Genialität und wissenschaftlichen Methoden führt, ist Avis Stärke die Analyse. Seine Fähigkeit, alle Details genau zu analysieren und auf seine Intuition zu hören, stößt bei den Kollegen häufig auf Unverständnis. Dies zeigt sich bei der Verhaftung eines Verdächtigen, den Avi nicht gehen lassen will, aber aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und nach dem Willen seiner Vorgesetzten erlauben muss. Seinen Blick durch die Oberfläche scheinbarer Normalität auf Abgründe haben die Kollegen nicht.

Dissonanzen

Privat hat Avi ebenfalls eine Hellsichtigkeit, die ihm nicht immer gefällt, denn er spürt bereits kurz vor seiner Heimreise Dissonanzen. „… Im Verlauf des langen Sommers … gab es einen Moment, in dem das unbeschwerte Glück … einen Riss bekam, durch den … in ihrer beider Bewusstsein(,) sickerte, dass es auch anders sein konnte.“ (S. 11) Dror Mishanis Erzählkunst verbindet in dieser Szene einen knapp gehaltenen literarischen Wegweiser, für die andere Autoren ausufernde Erklärungen brauchen. Diesen Kunstgriff nutzt er im Laufe des Romans immer wieder, um mit den Ahnungen seiner Leserschaft eine tiefere Verbindung zu schaffen.

Dror Mishani: Die Möglichkeit eines Verbrechens
Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke
Diogenes, März 2023
384 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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