Claudia Piñeiro: Kathedralen

Am Ende seines Lebens kommt Lías Vater Alfredo zu dem Schluss, jeder Mensch solle seine eigene Kathedrale errichten, einen Ort für das Wichtigste im eigenen Leben. Und weil jeder Mensch bekanntlich anders ist, sind diese wichtigen Dinge ebenfalls Unikate: Lías tote Schwester Ana hätte vermutlich in ihrer Kathedrale ihre Zeichnungen aufgehangen. Und bei Lía gäbe es statt der Ziegel Bücher.

Wäre Lía nach Anas Tod nicht nach Spanien geflüchtet, hätte ihr Leben zuhause in Argentinien eine andere Wendung genommen. Seit dreißig Jahren lebt sie in Santiago und führt ihren eigenen Buchladen. Das ständige Kommen und Gehen der vielen Pilger hat sie an ihrem damaligen Entschluss nie zweifeln lassen. Sie hätte auch ihre Muttersprache vergessen können, wäre da nicht der einzige Kontakt zu ihrem Vater Alfredo.

Dreißig Jahre tauschen sie sich über die Dinge des Alltags aus aber nie über Ana. Lía hat geschworen, erst dann wieder die Familie und Argentinien in ihr Leben zu lassen, wenn die Umstände von Anas Tod geklärt seien. Dass ausgerechnet der hartnäckige Alfredo die Hintergründe lüftet, verändert plötzlich alles.

Claudia Piñeiro zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen in Argentinien und gewann für ihre Werke viele Preise. Das Leitthema in ihrem aktuellen Roman sind die Folgen strenger Glaubensregeln, die innerhalb von Lías Familie tiefe Gräben gezogen hat. Während ihre Mutter und ihre ältere Schwester Carmen nahezu fanatisch nach den Regeln des katholischen Glaubens leben, wagen Alfredo, Lía und Ana eigene Gedanken und Interpretationen. Der Riss innerhalb der Familie wird tiefer, als Anas Geheimnis zu einer Verkettung von Ereignissen führt.

Ein Ruck in der Biografie

In mehreren Kapiteln erzählen Familienmitglieder, Anas Freundin und ein Kriminologe, wie Anas Tod einen Ruck in ihrer eigenen Biographie erzeugte. Hätten alle Beteiligten offen und vertrauensvoll miteinander geredet, wäre vieles nicht geschehen. Stattdessen haben sie geschwiegen, bis sie von der Vergangenheit eingeholt werden. Die Geschichte von Ana ist in ihrer klaren Aussage so drastisch, dass man die Lektüre nicht mehr aus der Hand legen möchte. Gleichzeitig zeigt sie, wie hoch der Preis sein kann, wenn Dogmen höher bewertet werden als die Not eines geliebten Menschen.

Claudia Piñeiro beschreibt, wie unterschiedlich Menschen mit der Last ihres Gewissens umgehen und für die Verheimlichung eines „Fehlers“ bereit sind, die schlimmsten Handlungen vor sich selbst zu tolerieren.

Der aufwühlende und packende Roman wurde von Peter Kultzen aus dem Spanischen übersetzt.

Claudia Piñeiro: Kathedralen.
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Januar 2023.
320 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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Ein Kommentar zu “Claudia Piñeiro: Kathedralen

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