Jean-Christophe Grangé: Die marmornen Träume

Der Meister des französischen Thrillers Jean-Christophe Grangé ist mit meinem Paukenschlag zurück. Sein neuestes Werk „Die marmornen Träume“ spielt in einem Setting, das bestenfalls als düster bezeichnet werden kann. Und zwar in Berlin, im September 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Neben dem eigentlichen mörderischen Plot entwickelt sich eine Atmosphäre des Bösen, in der unvorstellbare Gräuel zur gesellschaftskonformen Normalität geworden sind. Der Autor führt uns den ganz alltäglichen Horror vor Augen, eine Welt des Machtmissbrauchs, der blinden Hörigkeit, der sinnlosen Gewalt. Dabei zeichnet er drei komplexe Hauptcharaktere, die mit den Widersprüchlichkeiten der Ära zurechtkommen müssen und bei denen die Grenzen zwischen Gut und Böse luzide werden. Ein brutaler SS-Mann, ein ebenso zwielichtiger wie verführerischer Traumforscher und die alkoholabhängige, adelige Leiterin einer psychiatrischen Anstalt bilden ein ungewöhnliches Trio.

Ihre Wege kreuzen sich durch die Morde an den „Adlon-Damen“. Die blonden, arischen Frauen der besseren Gesellschaft, verheiratet mit NS-Größen und regimetreuen Großindustriellen, verbringen in dem Berliner Nobelhotel ihre Nachmittage in gelangweiltem Luxus. Doch nacheinander werden sie auf bestialische Weise getötet. Treibt ein irrer Serienmörder im straff durchorganisierten Nazireich sein Unwesen? Ein Ding der Unmöglichkeit! Noch dazu, weil die Taten politisch motiviert sein könnten. Deshalb müssen die Ermittlungen unter strengster Geheimhaltung stattfinden.

Der SS-Offizier Franz Beewen wird mit Auflösung des Falls betraut. Seinen Weg an die Spitze der Hierarchie hat er sich mit äußerster Brutalität gebahnt. Einschüchtern, Foltern, Töten – all dies führt der Koloss mit dem hängenden Augenlid sehr effizient aus. Doch zur Welt der Schönen und Reichen hat er keinen Zutritt. Den hat der Psychoanalytiker und Traumforscher Simon Kraus umso mehr. Nicht nur, dass alle ermordeten Frauen Patientinnen seiner Praxis waren. Mit allen hatte er ein Verhältnis, was ihn zunächst verdächtig macht.

Aber schnell wird klar, dass mehr dahintersteckt: Seine Patientinnen haben vor Ihrem Tod von schlimmen Alpträumen berichtet, in denen Ihnen ein mysteriöser Mann mit Marmormaske erschienen ist. Um seinen Kopf aus der Schlinge der Tatverdächtigen zu ziehen, aber auch aus wissenschaftlicher Neugier, beteiligt sich Simon an den Ermittlungen. In selbige wird die Psychiaterin Mina von Hassel ebenfalls hineingezogen. Zumal die Tage ihrer psychiatrischen Anstalt gezählt scheinen. Gerüchte machen die Runde, dass sich das Reich von dem Ballast „unwerten Lebens“ befreien möchte.

Immer wieder kitzelt Grangé auf grausame Weise die Ironie des Schicksals heraus. Während die Drei einen Mörder suchen, hat eine noch viel größere Tötungsmaschinerie im Hintergrund ihren Dienst aufgenommen. Juden, Zigeuner, Homosexuelle, psychisch Kranke – sie alle sollen aus dem „gesunden Volkskörper“ entfernt werden. Diese Gruppen werden in der Geschichte durch mehrere Figuren dargestellt. Was zur Folge hat, dass uns LeserInnen auf praktisch jeder Seite angst und bange wird.

Sprachlich schlägt der französische Autor die Brücke vom Mord zur NS-Diktatur, die er genauso blutig und brutal wie die Taten als solche beschreibt. Beispiel:
„Der Nationalsozialismus war jedoch vor allem aus dem Bier hervorgegangen. Aus miefigen Hopfengerüchen und der Benebelung durch Alkohol, der einem das Hirn zerschmorte. Aus verrauchten Bierhallen, die nach Rülpsern und Pisse stanken und die abends, im flackernden Kerzenschein, wie große blutige Organe aussahen, in denen das beschissene antisemitische Gedankengut wuchs, das Bestreben, alles und jeden gleichzumachen und die Völker Europas zu vernichten.“ (S. 92)

Auch gelingt es dem Autor, dass wir atemlos mit drei im Grunde genommen unsympathischen Figuren mitfiebern. In unverhofften Momenten keimt in dem brutalen SS-Mann Beewen ein Funken Menschlichkeit auf. Simon Kraus, der durch Armut und Kleinwüchsigkeit in doppeltem Sinne ganz unten im NS-Welt steht, hat sich durch Verführung und Erpressung nach oben gekämpft. Opportunistisch hat er die Wohnung einer deportierten jüdischen Familie bezogen. Doch immer hadert er damit, einhergehende kognitive Dissonanzen zu überwinden. Selbst die emanzipierte Minna von Hassel hat neben ihrer Alkoholsucht diverse Charakterbrüche, sodass sie nicht wirklich zur Heldin taugt. Trotz alledem funkeln die drei Hauptfiguren zwischen dem übrigen braunen Sumpf der NS-Gesellschaft wie Hoffnungsschimmer aus der Masse.

Am Ende lehnt sich der Autor ziemlich weit aus dem Fenster und lässt Anleihen zu seinem Besteller „Die purpurnen Flüsse“ erkennen. Hier wie dort spielt Blut eine Schlüsselrolle. Im Hinblick darauf, „dass der Nationalsozialismus kein politisches, sondern ein biologisches Programm ist.“ (S. 497)
Bei anderen hätte dies schiefgehen können, nicht so bei Grangé.

Herausgekommen ist ein extrem spannender, schonungslos brutaler Thriller voller Twists und Subebenen, der nicht nur düster, sondern tiefschwarz ist. Erst recht im Hinblick auf die deutsche Geschichte. Gänsehaut und wohliges Unwohlsein garantiert. Klingt nach Paradox? Lesen Sie selbst!

Jean Christophe Grangé: Die marmornen Träume.
Aus dem Französischen übersetzt von Ina Böhme.
Tropen, Februar 2023.
688 Seiten, Taschenbuch, 26,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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