Es kommt auf die richtige Freizeitbeschäftigung an. „… Das unbesorgte Sterben ist eine große Probe auf die Richtigkeit einer Freizeitbeschäftigung. Meine Großmutter spazierte bis ins hohe Alter. Mit vierundneunzig Jahren bückte sie sich so tief nach einer Wiesenblume, dass ihr Herz versagte.“ (S. 90)
Wenn bei anderen der Gedanke an das eigene Lebensende in den Vordergrund tritt, dann geht der pensionierte Lehrer Zbinden spazieren. Er wohnt im Alter von 87 Jahren in einem Seniorenheim. Jeden Tag sucht er das Gespräch, den Weg nach draußen, um mit möglichst vielen Menschen zu sprechen. Neue Menschen kennenzulernen wird zu seinem Motor.
Der Spaziergang über eine sehr lange Treppe hinunter bringt ihm den neuen Zivildienstleistenden Kâzim näher. Das, was im Leben wichtig ist, kommt unweigerlich zur Sprache: Die Liebe.
Der Autor und Kabarettist Christoph Simon aus Bern schlüpft in die Rolle eines wesentlich Älteren. Seine Perspektive kommt so nah an Lukas Zbinden ran, wie es nur in einem inneren Monolog möglich ist. Der nach innen gerichtete Blick des Erzählers könnte abschotten, die Welt draußen lassen. Doch immer wieder schwenkt die Perspektive auf Zbindens Mitmenschen. Ihre Marotten und Eigenheiten fordern den alten Lehrer heraus. Er will jeden von ihnen auf den Geschmack des Spazierengehens bringen. Der Akt der Ruhe, dem Einssein mit der Umwelt spiegelt Zbindens lebensbejahende Einstellung wider. In seinem Alltag bleiben die altersbedingten Zipperlein, ein unbeugsamer Wille und die Kunst, sich selbst auf die Schippe zu nehmen, Wegbegleiter. Der Wunsch nach neuen Erfahrungen und Erkenntnissen treibt ihn so an, dass der Weg zurück schon mal schwierig wird.
Seinem jungen Wegbegleiter erzählt Zbinden, wie er früher an Selbstzweifeln litt. Seine Emilie gab ihm den Rat, er solle lernen, sich selbst zu mögen. An seinen Spiegel klebte er daraufhin einen Zettel mit der Aufschrift: „Mag dich!“ Weil dies nicht funktionieren wollte, tauschte er ihn aus: „ … ‚Mag dich trotzdem!‘ schrieb er. … Das half.“ (S. 87)
Sich selbst lieben zu können, einen anderen lieben, von diesem wieder geliebt zu werden und das Schöne in den kleinen Dingen des Alltags zu erkennen, schenken ein Glück, das man jedem wünscht. Egal in welchem Alter.
Was fällt Dir zu Glück ein, fragt Lukas seine Frau.
„… Gut‘, sagte Emilie und kratzte sich am Bein, wo sie ein Mückenstich plagte. ‚Das große Glück ist unser Liebe. Das kleine wäre, wenn du jetzt der Stille zuhören würdest.‘“ (S. 182)
Christoph Simon: Spaziergänger Zbinden.
Unionsverlag, Januar 2019.
192 Seiten, Taschenbuch, 12,95 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.